Online-Nachricht - Donnerstag, 01.12.2022
Verfahrensrecht | Aussetzung der Vollziehung eines Abrechnungsbescheids über Säumniszuschläge (BFH)
Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung bestehen ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO, soweit diese nach dem 31.12.2018 entstanden sind (Anschluss an BFH-Beschlüsse v. 23.5.2022 - V B 4/22 (AdV), zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen, und vom 31.8.2021 - VII B 69/21 (AdV), n.v.: BFH, Beschluss v. 11.11.2022 - VIII B 64/22 (AdV); veröffentlicht am 1.12.2022).
Sachverhalt: Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der in den Abrechnungsbescheiden v. 10.1.2022 ausgewiesenen und nicht erlassenen Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 2019, zum Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 2019 sowie zur Einkommensteuervorauszahlung für das erste Kalendervierteljahr 2021. Das FG der ersten Instanz hatte dem Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Vollziehung der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge stattgegeben (FG Münster, Beschluss v. 25.4.2022 - 12 V 570/22 AO).
Der VIII. Senat des BFH wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des FA zurück:
- Das FG hat die begehrte AdV der streitgegenständlichen Säumniszuschläge zu Recht gewährt.
- Das FG ist insoweit zu Recht von dem Beschluss des BVerfG v. 8.7.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282 ausgegangen. Danach verstößt § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes und ist daher verfassungswidrig, soweit er auf Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 zur Anwendung gelangt. Aufgrund einer Fortgeltungsanordnung für die Verzinsungszeiträume bis zum 31.12.2018 ist der Zinssatz von 6 % p.a. allerdings erst für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 nicht mehr anwendbar.
- Das BVerfG hat zwar in seinem Beschluss in BVerfGE 158, 282 festgestellt, dass andere Verzinsungstatbestände der AO einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung bedürften (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 158, 282, Rz 241 f.).
- Sowohl der VIII. Senat des BFH als auch der V. Senat des BFH haben jedoch auch im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge geäußert, soweit Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern sie die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern haben (zinsähnliche Funktion) (vgl. BFH-Beschlüsse v. 31.8.2021 - VII B 69/21 (AdV), nicht veröffentlicht n.v. , unter Hinweis u.a. auf BFH-Beschluss v. 14.4.2020 - VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177; BFH-Beschluss v. 23.5.2022 - V B 4/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1030).
- Der VIII. Senat schließt sich diesen Ausführungen an. Denn es ist in der Rechtsprechung und überwiegend auch im Schrifttum anerkannt, dass Säumniszuschlägen auch die Funktion einer Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zukommt.
- Der Umstand, dass Säumniszuschläge nicht ausschließlich zinsähnlichen Charakter haben, sondern ihnen auch die Funktion eines Druckmittels zukommt, das den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Zahlung fälliger Steuern anhalten, also verhaltenslenkend wirken, und zugleich entstandenen Verwaltungsaufwand ausgleichen soll, steht der Annahme ernstlicher Zweifel in Bezug auf die Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO nicht entgegen.
- Vielmehr führt das Bestehen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe in § 240 Abs. 1 Satz 1 AO dazu, dass die streitgegenständlichen Säumniszuschläge in voller Höhe von der Vollziehung auszusetzen sind, da es keine Teilverfassungswidrigkeit in Bezug auf einen bestimmten Zweck einer Norm gibt (vgl. bereits BFH, Beschluss in BFH/NV 2019, 1060, Rz 16 zu ernstlichen Zweifeln bei Aussetzungszinsen; gleicher Ansicht BFH-Beschluss in BFH/NV 2022, 1030, Rz 47 zu Säumniszuschlägen).
Quelle: BFH, Beschluss v. 11.11.2022 - VIII B 64/22 (AdV); NWB Datenbank (il)
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im VIII. Senat des BFH Dr. Christian Levedag gelangen Sie hier (Login erforderlich).