Aktuelle Trends im Bilanzsteuerrecht

Bilanzsteuerrecht bedeutet zumeist praktische Steuerrechtsanwendung in Alltagsfällen der Bilanzierung und Bewertung. Stets ist eine fallbezogene Rechtsanwendung von Nöten. Wegen der Grundstruktur der auf einen Bestandsvergleich ausgerichteten steuerlichen Gewinnermittlung – §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 EStG in Abgrenzung zur vereinfachten Gewinnermittlung gem. § 4 Abs. 3 EStG – bestehen starke handelsbilanzielle Bezüge, die auf der kaufmännischen Rechnungslegung zur Herstellung einer periodengerechten Ergebnisermittlung im Interesse leistungsfähigkeitsorientierter Besteuerung gründen.

Betriebswirtschaftlich orientierte Bilanzierungspraktiker beherrschen die Szene. Dessen ungeachtet geht es stets um eine „Bilanz im Rechtssinne“ für Steuerbemessungszwecke, also eine originär steuerjuristisch ausgerichtete Rechtsmaterie. Jenseits aller Tagesfragen sollte der Bilanzrechtssystematiker aber auch einige einschlägige Entwicklungsperspektiven in den Blick nehmen, die bereits zu strukturellen Veränderungen im Bilanzsteuerrecht geführt haben und sich kurz- bzw. mittelfristig fortsetzen werden. Es lassen sich vier wichtige, allerdings im Detail oszillierende Entwicklungstrends erkennen, die nachfolgend dargestellt werden.

Kernfragen

  • Die materielle Maßgeblichkeit handelsrechtlicher GoB für Steuerbilanzzwecke besteht im Kern nach wie vor.
  • Der praktische Umgang damit wird aber zunehmend durch steuergesetzliche Detailregelungen und aufgrund steuerteleologischer Auslegungsleitlinien des BFH in der einen oder anderen Richtung erschwert.
  • Die Diskussionen um die verschiedenen Entwicklungsstände der E-Bilanz-Taxonomie (§ 5b EStG) und das neue Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen nehmen Einfluss auch auf das materielle Bilanzsteuerrecht.

I. Zunehmende Eigenständigkeit des Bilanzsteuerrechts trotz Maßgeblichkeit

Das seit Jahrzehnten bestehende materielle Maßgeblichkeitsprinzip mit seiner traditionellen Bezugnahme auf die „handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ ist in § 5 Abs. 1 EStG verankert. Allerdings sind seit langem zunehmende steuergesetzliche Sonderregelungen außerhalb handelsbilanzieller Vorschriften und Handhabungen zu konstatieren. Leistungsfähigkeitskonforme Systemgrundsätze scheinen dabei immer weniger beachtet zu werden. Beispielhaft können die Vorschriften der §§ 4f, 5 Abs. 7 EStG zu entgeltlichen Verpflichtungsübernahmen, Schuldbeitritten und Erfüllungsübernahmen bei Übertrager/ Übernehmer genannt werden. Auf der einen Seite muss eine steuerbilanziell realisierte stille Last abzugsbegrenzend auf typisierte 15 Jahre verteilt werden. Auf der anderen Seite erzwingt der Steuergesetzgeber beim Übernehmer einen „Erwerbsgewinn“, der wahlweise wohl unter Billigkeitsaspekten über eine gewinnmindernde Rücklage zeitlich ebenfalls auf 15 Jahre gestreckt werden kann. Die Regelungen wirken trotz ihrer teils synchronen Ausgestaltung allerdings nicht alternativ, sondern kumulativ. Aus der handelsbilanziellen Perspektive wird man vor allem den Erwerbsgewinn auf Übernehmerseite in fremdüblich ausgestalteten Konstellationen (insbes. außerhalb konzerninterner Transaktionen) als „Grundsatz ordnungswidriger Bilanzierung“ wegen Verstoßes gegen das Anschaffungskostenprinzip bezeichnen können. Das in Arbeit befindliche BMF-Schreiben zu diesen steuerspeziellen Schuldübernahmeregelungen wird vermutlich zu weiteren praktischen Rechtsverschärfungen führen (etwa im Bereich von Kettenübertragungen oder bei Inbound/Outbound-Transaktionen).

Im Übrigen ist bei Konzernen und im Mittelstand mittlerweile eine von IFRS und handelsbilanzieller Rechnungslegung weitgehend emanzipierte eigenständige Steuerbilanzpolitik zu erkennen, die vor allem dem Wahlrechtsvorbehalt des § 5 Abs. 1 EStG geschuldet ist. Einheitsbilanzen für handels- und steuerbilanzielle Zwecke gehören weitgehend der Vergangenheit an. Die praktische Bedeutung des Tax Accounting steigt. Insoweit „trendwidrig“ wurde allerdings durch das „Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens“ vom 18.7.2016 eine Herstellungskostendetailregelung für allgemeine Verwaltungskosten eingeführt, die im Grundsatz zu begrüßen ist und rückwirkend gilt. Dieses Herstellungskostenwahlrecht ist allerdings nur im Gleichklang von Handels- und Steuerbilanz ausübbar (§ 6 Abs. 1 Nr. 1b Satz 2 EStG). Schließlich haben Gewinnausschüttungs- und Gewinnabführungssperren mittlerweile in zunehmender Zahl als neues „Vorsichtsinstrument“ in das Handelsbilanzrecht Eingang gefunden (§ 268 Abs. 8 HGB, § 301 AktG für Gewinnabführungsfälle im Rahmen von Organschaften). Allerdings fallen neuerdings im Pensionsrückstellungsbereich (von sieben auf zehn Jahre verlängerter Durchschnittszins, § 253 Abs. 2 HGB) Ausschüttungs- und Abführungssperre in Organschaftsfällen laut BMF-Schreiben vom 23.12.2016 auseinander (§ 301 AktG verweist nicht auf § 253 Abs. 6 HGB). Ein handelsbilanzielles Abführungswahlrecht trifft damit auf ein steuerliches Vollabführungsgebot, was zu Organschaftsgefährdungen führen könnte. In der Praxis sollte ein entsprechender Gleichklang von handels- und steuerrechtlicher Handhabung angestrebt werden.

Man sieht: Die materielle Maßgeblichkeit handelsrechtlicher GoB für Steuerbilanzzwecke besteht im Kern nach wie vor. Der praktische Umgang damit wird aber zunehmend durch steuergesetzliche Detailregelungen und aufgrund steuerteleologischer Auslegungsleitlinien des BFH in der einen oder anderen Richtung erschwert. Neu durch die Finanzverwaltung „entdeckte“ Maßgeblichkeitswirkungen – wie etwa die handelsbilanzielle Obergrenzenkappung des R 6.11 Abs. 3 EStR bei der Rückstellungsbewertung – führen besteuerungspraktisch zu weiteren Wirren.

II. DV-gestütztes Steuerbilanzrecht verändert die Bilanzierungspraxis

Die Diskussionen um die verschiedenen Entwicklungsstände der E-Bilanz-Taxonomie (§ 5b EStG) nehmen Einfluss auch auf das materielle Bilanzsteuerrecht. Zu denken ist insoweit etwa an Kapitalkontenfragen sowie die Rechtsgrundlagen der Ergänzungs- und Sonderbilanzen bei der Personengesellschaftsbesteuerung. Big Data und neue Finanzverwaltungsprüfungstechniken „unterlaufen“ zunehmend die Beweiskraft der Buchführung (§ 158 AO), wobei der BFH insoweit versucht, überbordenden Schätzungen in der Praxis der Finanzverwaltung einen Riegel vorzuschieben. Auch der von Schätzungen und Plausibilitätsanalysen „hoch begeisterte“ Betriebsprüfer sollte seine Funktion als Repräsentant steuerlicher Eingriffsverwaltung nicht vergessen, die an „Recht und Gesetz“ gebunden ist. Der im Unternehmensinteresse tätige „Steuerbilanzpreparer“ auf der anderen Seite sollte sich insoweit – mehr als dies bislang vielleicht geschieht –, den Erfahrungsschatz der Prüfungs- und Plausibilitätstechniken aus der „Wirtschaftsprüferzunft“ zunutze machen.

Vor allem im Bereich bargeldnaher Wirtschaftstätigkeit drängt auch der Gesetzgeber zunehmend auf die Sicherstellung ordnungsmäßiger (insbes. vollständiger) Einnahmenerfassung. Insoweit kann beispielhaft das auf den 22.12.2016 datierende „Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen“ genannt werden, das etwa eine neue unangekündigte Kassen-Nachschau (§ 146b AO n. F.) mit Wirkung ab 1.1.2018 sowie eine im Grundsatz bestehende „Pflicht zu Einzelaufzeichnungen“ (§ 146 Abs. 1 AO n. F.) für alle Kasseneinnahmen und Kassenausgaben vorsieht. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen elektronische Registrierkassen und vergleichbare Geräte spätestens ab dem 1.1.2020 über „zertifizierte technische Sicherheitseinrichtungen“ verfügen; zu den Details von Sicherheitsmodul, Speichermedium und einheitlicher Schnittstelle ist eine Rechtsverordnung vorgesehen. Die Registrierkassenpflicht wird im Übrigen ergänzt durch eine speziell ausgestaltete Belegausgabepflicht (§ 146a Abs. 2 AO n. F.). Konzeptionell soll all dies gleichheitsgerechter Steuererhebung dienen, was im Grundsatz zu begrüßen ist, aber praktisch stets mit Augenmaß umgesetzt werden muss, um letztlich „sinnlosen Bürokratieaufwand“ zu vermeiden. Die Praxis der Konzerne schließlich muss sich im internationalen Steuergeschäft zunehmend auf ein Benchmarking mittels Datenbanken etwa im Bereich der Verrechnungspreisprüfung einrichten. Dies alles nimmt unmittelbar Einfluss auf die steuerrelevante Buchführungs- und Bilanzierungspraxis.

III. Neue Geschäftsmodelle geben steuerbilanzielle Diskussionsimpulse

Auch wenn zahlreiche Diskurse im Bilanzsteuerrecht immer wieder und mit ähnlichen Argumentationsmustern um ungeklärte Grundsatzfragen – etwa im Bereich der Rückstellungen – kreisen, muss man erkennen, dass geänderte Geschäftskonzepte im modernen Wirtschaftsleben häufig „alte Rechtsfragen“ unter geänderten Gesichtspunkten neu entfachen, ggf. mit fortentwickelten Lösungen. Zu nennen sind etwa Diskussionen um das Realisationsprinzip bei Mehrkomponentengeschäften oder Steuerfragen der Bewertungseinheit. Auch nimmt die Bedeutung immaterieller Vermögenswerte im modernen arbeitsteiligen Wirtschaftsleben stetig zu. Deshalb sind Fragen zum Anwendungsbereich des § 5 Abs. 2 EStG als steuergesetzliche Sonderregelung abweichend zum Aktivierungswahlrecht des § 248 Abs. 2 HGB von steigender Relevanz. Gedacht werden kann insoweit an Fragen der steuerbilanziellen Behandlung von Entwicklungsaufwendungen im Automobilbereich (Hersteller, Zulieferer). Einschlägige Betriebsprüfungsdiskussionen kreisen insoweit vermehrt um die Abgrenzung „Erwerb/ eigene Herstellung“ von immateriellen Werten bei Auftragsproduktionen. Verwaltungsseitige „Begehrlichkeiten“ werden mitunter wegen der IFRS/US GAAP-Bilanzierung geweckt, die für Aktivierungsfragen bei intangibles (insbes. Entwicklungskosten) entscheidend auf das wahrscheinliche künftige Nutzenpotenzial abstellen (etwa IAS 38.17, .51 ff.). Rechtsprechung und Literatur zu diesen Abgrenzungsfragen ist nur spärlich vorhanden und konzentriert sich auf die Perspektive der Zulieferer. Automobilhersteller und Zulieferer befinden sich u. U. hinsichtlich denkbarer Aktivierungsnotwendigkeiten im steuerbilanziellen Interessenwiderstreit. All diese Fragen sind letztlich nicht neu, erfordern aber aktuell justierte Einordnungen.

IV. Europäische und internationale Impulssetzungen im Bilanzsteuerrecht

Die derzeit die internationale Fachwelt dominierende Diskussion um die „BEPS-Gesetzgebung“ mit Korrespondenzregeln, Abzugsbeschränkungen usw., vor allem im Bereich hybrider Konstrukte, hat Bedeutung auch im Bilanzsteuerrecht. Fragen der gesetzlichen Verortung von Abzugsbeschränkungen auf der ersten oder zweiten (außerbilanziellen) Gewinnermittlungsstufe bedürfen weiterer Analyse. Ein „Klassiker“ des Steuerbilanzrechts – das Subventionswahlrecht des § 6b EStG für die Übertragung bestimmter stiller Reserven – hat mittlerweile aufgrund von Einflüssen aus dem Unionsrecht eine „duale Struktur“ erlangt. § 6b Abs. 2a EStG enthält eine durch das Steueränderungsgesetz 2015 (vom 2.11.2015) eingeführte, rückwirkend geltende EU/EWR-Steuerstundungsmöglichkeit, die im Detail ganz neue Anwendungsstrategien für § 6b-Fälle in der Praxis hervorgebracht hat. Auch der Vorschlag der EU-Kommission aus Oktober 2016 zu einer CCTB (Common Corporate Tax Base)- Richtlinie – also ohne eine europaweite Konsolidierung des Gruppeneinkommens – wird ungeachtet aller Details weiteren Einfluss auf die Bilanzrechtsdiskussion in Deutschland und insbesondere auf die Bedeutung des Maßgeblichkeitsprinzips nehmen. Das prinzipienbasierte kontinentaleuropäische Bilanzrecht muss hier mit der mehr Case Laworientierten angelsächsischen Rechnungslegungstradition weiter praxisverwendbar zusammengeführt werden. Ob dieser Richtlinienentwurf eines „europäischen Bilanzsteuerrechts“ jemals in Kraft treten wird, ist derzeit nicht absehbar. Dennoch werden sich dadurch europäische Impulse auch in unserem nationalen Bilanzsteuerrecht ergeben (etwa hinsichtlich einer Poolabschreibung oder steuersubventionellen Forschungsfördernormen).

V. Zum Schluss

Bilanzsteuerrecht ist immer ein „Abbild unserer Zeit“. Derzeit erfolgen wichtige Koordinatenverschiebungen hin zu mehr Eigenständigkeit, Internationalität und DV-Vernetzung auch in unserem traditionell maßgeblichkeitsgeprägten Bilanzsteuerrecht. Es ist wichtig, dass der Bilanzierungspraktiker jenseits aller Alltagsfragen auch diese Trends frühzeitig erkennt und in seine Bilanzierungsstrategien einbezieht.

Von WP/StB Prof. Dr. Ulrich Prinz
Er ist Partner Of Counsel der Beratungsgruppe WTS und Honorarprofessor der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Aus NWB Unternehmensteuern und Bilanzen – StuB 3/2017
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