Anzeigepflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen

Der nachfolgende Beitrag gibt Ihnen einen Einblick in die Praxiskommentierung zu den Anzeigepflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen von Rechtsanwalt Professor Dr. jur. Klaus von Brocke, Diplom-Volkswirt Dipl.-Kaufmann Roland Nonnenmacher und Rechtsanwalt Stefan Przybilka in der 2. Auflage aus dem Jahr 2020.

A. Einführung

I. Annäherung an die Thematik; Methodik

Der vorliegende Brennpunkt in der zweiten Auflage will sich als frühzeitiger Praxiskommentar verstanden wissen, der sich umfassend mit der Materie der Anzeigepflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen der Sechsten Änderungsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2018/822) zur EU-Amtshilferichtlinie (Richtlinie 2011/16/EU) auseinandersetzt, die in Deutschland mit dem Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen1 fristgemäß zum in nationales Recht umgesetzt wurde.

Hinweis:

Im Folgenden werden die Sechste Änderungsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2018/822) und die hierdurch geänderte EU-Amtshilferichtlinie (Richtlinie 2011/16/EU) zusammenfassend als DAC6-Amtshilferichtlinie (DAC6) bezeichnet (engl.: DAC6-Directive on Administrative Cooperation).

Für das Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen wird die Bezeichnung DAC6-Umsetzungsgesetz (DAC6-UmsG) verwendet.

Ein Kommentar genügt den Bedürfnissen der Praxis, wenn er die Probleme aufwirft und einer Lösung zuführt, auf die der kundige Rechtsanwender bei der Arbeit mit dem Gesetz stößt. Während die Verfasser bei den Arbeiten an der ersten Auflage vor der nicht einfachen Aufgabe standen, die DAC6-Amtshilferichtlinie noch vor deren Umsetzung bzw. nur auf Basis eines ersten Referentenentwurfs zu kommentieren, liegt nunmehr der vollständige deutsche Gesetzestext vor. Die am im Bundesgesetzblatt veröffentlichte finale Gesetzesfassung hat im Vergleich zum ersten Entwurf insbesondere das deutsche Mitteilungsverfahren an vielen Stellen geändert. Der Gesetzgeber hat eine Reihe von Klarstellungen vorgenommen und dabei auch einige der in der ersten Auflage geschilderten Probleme entschärft. Wie jedoch vorauszusehen war, wirft auch die finale deutsche Gesetzesfassung zahlreiche, weiterhin ungeklärte Anwendungs- und Auslegungsfragen auf. Auch eine sorgfältige nationale Umsetzung kann letztlich die konzeptionellen Unschärfen und die ungezählten Unklarheiten und Widersprüche der mit heißer Nadel gestrickten DAC6 nicht im Alleingang ausbügeln.

Trotz bzw. gerade wegen dieser weiterhin schwierigen Ausgangslage wird hier der Versuch unternommen, die Unklarheiten und Ungereimtheiten der DAC6-Amtshilferichtlinie und des DAC6-Umsetzungsgesetzes sowie des begleitenden BMF-Schreibens und der Verfahrensvorgaben des BZSt lösungsorientiert herauszuarbeiten. Die Verfasser haben hierfür eine Vielzahl von Fragestellungen zusammengetragen, die sich aus der Begleitung der deutschen und europäischen DAC6-Umsetzung sowie ihrer Praxiserfahrungen bei der Anwendung der DAC6 bzw. der nationalen Umsetzungsgesetze ergeben. Quellen sind neben den offiziellen Dokumenten des deutschen Gesetzgebers, der EU und der OECD auch die bereits auf breiter Front geführte Diskussion in der deutschen Fachliteratur, zahlreiche Gespräche mit Mandanten und Kollegen und die Arbeit an konkreten Umsetzungsprojekten. Erst die weitere Anwendungs- und Rechtspraxis wird zeigen, wo die Hauptproblemfelder liegen, welche Antworten die Rechtsprechung gibt und an welchen Punkten die Materie die größte Streitanfälligkeit aufweist. Demgemäß werden verschiedene Lösungsansätze auch nicht immer klar zugunsten einer Seite entschieden, wenn die Verfasser verschiedene Ansätze für vertretbar halten.

Man merkt der DAC6-Amtshilferichtlinie bereits im Tonfall ihrer Erwägungsgründe, in ihrer Praxistauglichkeit und vor allem in ihren technischen Mängeln an, dass sie das übereilte Ergebnis einer häufig mehr politisch als fachlich geführten Diskussion war. Anzuführen sind eine Reihe von Übersetzungsfehlern, überflüssig gewordene Überbleibsel aus den Entwurfsstadien, eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe sowie die unreflektierte, teils wörtliche Übernahme von Regelungsbausteinen aus Dokumenten der OECD bzw. nationalen Gesetzgebungen von Staaten, die eine Meldepflicht bereits im Alleingang eingeführt haben. Die im Vergleich zu anderen Rechtsakten geringere handwerkliche Qualität der DAC6 ist für den Kommentator der Vorschriften eine Fundgrube für Interpretationen. An einigen Stellen fällt die Kommentierung daher überraschend lang aus, denn was der EU-Gesetzgeber nicht geleistet und der nationale Gesetzgeber nicht nachgeholt hat, kann nur durch eine umso genauere Arbeit der Adressaten – und im weiteren Verlauf der Gerichte – wieder ausgeglichen werden.

Zur besseren Lesbarkeit, Vergleichbarkeit und praktischen Anwendung sind den einzelnen Unterkapiteln die jeweils relevanten Vorschriften (in Teilen gekürzt) vorangestellt. Informationsbasis der Praxiskommentierung sind die DAC6-Amtshilferichtlinie, das deutsche DAC6-Umsetzungsgesetz 2019, der weitestgehend finale Entwurf des sowie die Verfahrensvorgaben des BZSt. Im Anhang werden die am meisten zitierten Bezugsquellen des deutschen und des EU-Gesetzgebers in Form von wichtigen Arbeitspapieren der EU-Kommission und des Rates der EU als Auslegungshilfen bereitgestellt.

Der Brennpunkt folgt auch in der zweiten Auflage der schon bewährten Gliederung anhand der Richtlinie und nicht einer an den Paragraphen der Abgabenordnung (AO) orientierten Reihenfolge. Dies liegt zum einen begründet in der besseren Les- und Vergleichbarkeit mit den zugrundeliegenden EU-Richtlinienbestimmungen, der zunehmend auch unter der deutschen Steuerpraxis vorzufindenden internationalen Beratung, zum anderen in der besseren Systematik und praktischen Prüfungsreihenfolge der Richtlinie. Nicht zuletzt dürfte der Leser an einer leichteren Vergleichsmöglichkeit mit den nationalen Regelungen anderer EU-Mitglieder interessiert sein, da es sich nicht nur EU-rechtlich, sondern auch inhaltlich immer um eine grenzüberschreitende Materie handelt, auf die dann häufig auch mehrere nationale Gesetzgebungen einwirken. Die Rechtsvergleichung wird aller Voraussicht nach eine wichtige Rolle bei der Auslegung dieser Vorschriften spielen, zugleich wird die DAC6-Amtshilferichtlinie in Zweifelsfällen als Grundordnung und eigentliche Rechtsquelle eine wichtigere Rolle behalten als bei Richtlinien mit rein nationalen Anwendungssachveralten üblich.

II. Hintergrund und Inkrafttreten der DAC6-Amtshilferichtlinie

Die Aufdeckung der „Paradise Papers“ und „Panama Papers“ im Jahre 2016 hat in bis dato allenfalls geahnter, jedoch in dieser Form nie bewiesener Dimension offengelegt, wie mithilfe teils durchaus als aggressiv zu bezeichnender Steuersparmodelle weltweit daran gearbeitet wurde, die Steuerlast von individuellen Steuerpflichtigen und Unternehmen maßgeblich zu reduzieren bzw. zu vermeiden. Für die Öffentlichkeit und die Finanzbehörden erschreckend war hierbei nicht nur das Ausmaß, sondern auch die systematische und standardisierte Vorgehensweise der Akteure (der sog. Intermediäre/Promoter und ihrer Mandanten). Ziel dieser Akteure war und ist es, bestehende Besteuerungslücken, nicht harmonisierte bzw. koordinierte Steuersysteme und Steuerintransparenz zwischen den einzelnen Staaten zu ihrem eigenen oder dem Vorteil ihrer Kunden auszunutzen.

Ein Wort darf an dieser Stelle zum „aggressiven“ Charakter des Steuersparens nicht fehlen, wo doch die DAC6-Amtshilferichtlinie dieses Adjektiv in ihren Erwägungsgründen gleich 18-mal in den Mund nimmt. Wer erwartet, dass dieser für die Motivationslage des Richtliniengebers so zentrale Begriff an irgendeiner Stelle definiert ist, wird enttäuscht. Im Gegenteil wird dieses Unterfangen im Richtlinientext nicht versucht und in den ihr vorangestellten Erwägungen sogar ausdrücklich als undurchführbar verworfen. Und so kommt es, dass ständig über etwas gesprochen wird, von dem jeder zu wissen meint, was es damit auf sich habe, das aber bei näherem Hinschauen zunehmend nebulös wird. Die Richtlinie versteigt sich immerhin zu der Behauptung, dass alles, was über den Kennzeichenkatalog als meldepflichtig erfasst sei, als aggressiv einzustufen sei. Das dürfte an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen. Wenn man die Grundstimmung der DAC6-Amtshilferichtlinie damit durchaus kritisch unter die Lupe nehmen darf, so ist die Existenz einer Beratungspraxis, die als aggressiv einzustufen ist, nicht zu leugnen. Infrage zu stellen ist aber der Generalverdacht, unter den insbesondere international tätige Berater gestellt werden und denen nun mit der Meldepflicht begegnet werden soll. So ist es letztlich doch bedauerlich, dass keinerlei Versuch unternommen worden ist, aggressive von nicht-aggressiven Steuergestaltungen abzugrenzen, was der Auslegung vor allem nach dem Sinn und Zweck förderlich gewesen wäre. Allein die Mühe, einen passenden Gegenbegriff zur „aggressiven“ Steuergestaltung zu finden (legitim? schonend? moderat?), zeigt die Problematik auf, die mit der Stigmatisierung einer vermeintlich eindeutig verwerflichen Handlungsweise verbunden ist. In der juristischen Alltagspraxis sollte bei der Prüfung potenziell meldepflichtiger Gestaltungen jedenfalls Zurückhaltung geübt und mit Bedacht vorgegangen werden, um einer Konturenlosigkeit des Meldewesens vorzubeugen.

Deutlich kritischer als die Verweigerung gegenüber einer genauen Bezeichnung des Feindbilds muss man das völlige Schweigen des Richtliniengebers gegenüber den Angehörigen seiner eigenen Zunft sehen. Nie darf nämlich vergessen werden, dass einige Staaten den aggressiven Praktiken der Steuergestalter durch ihre ebenso einseitige und aggressiv auf zwischenstaatlichen Steuerwettbewerb ausgerichtete Gesetzgebung Vorschub geleistet haben und dies nach wie vor tun, um wenigstens in geringem Umfang an dem Wohlstand zu partizipieren, der anderswo geschaffen wird. Die schlimmsten Auswüchse internationaler Steuerplanung würden verschwinden, wenn es keine Rechtsordnung mehr gäbe, die sich für diesen Zweck instrumentalisieren ließe. In der Debatte über Steuergerechtigkeit hätte es dem Richtliniengeber gut zu Gesicht gestanden, wenn er dies deutlich ausgesprochen hätte. Denn im Gegensatz zu den einzelnen Akteuren, die für sich das steuerliche Optimum herausholen und damit nur das tun, was man von wirtschaftlich denkenden Marktteilnehmern erwartet, sind Staaten dem Allgemeinwohl verpflichtet. Dass nun in erster Linie gegen die Marktteilnehmer selbst vorgegangen wird, liegt auf der Hand: Die dadurch geschädigten Staaten halten Transparenzregelungen u. a. deshalb für notwendig, weil sie mit den ihnen zu Gebote stehenden politischen Mitteln bislang keinen Weg gefunden haben, Auswüchse einer teils „aggressiven Steuergesetzgebung“ (man spricht hier meist wertfreier von Steuerwettbewerb), die sie selber zu verantworten haben, einzuhegen und in sinnvolle Bahnen zu leiten.

Um die Transparenz im Steuerbereich zu verbessern und wirkungsvoller gegen künstliche Steuergestaltungsmodelle zur Steuervermeidung vorgehen zu können, wurden innerhalb der Europäischen Union neue Vorschriften vorgeschlagen – vornehmlich auf Basis des Aktionspunkts 12 des Berichts der OECD gegen Gewinnkürzung und Gewinnverlagerung multinationaler Unternehmen (Base Erosion and Profit Shifting (BEPS)-Reports, Action 12 Mandatory Disclosure Rules). Nach Aussagen der Europäischen Kommission haben Intermediäre, d. h. u. a. (Steuer-)Berater, Rechtsanwälte, Buchhalter und Banken, in der Vergangenheit aktiv dazu beigetragen, die Steuerlast einzelner Personen und Unternehmen mithilfe von Steuergestaltungsmodellen zu reduzieren und teils vollkommen zu vermeiden. Da solche Modelle laut der Europäischen Kommission die Fairness beeinträchtigen und im europäischen Binnenmarkt zu Verzerrungen führen, präsentierte die Kommission am einen Vorschlag zur Änderung der EU-Amtshilferichtlinie (Richtlinie 2011/16/EU) bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle (Vorschlag zur Richtlinie (EU) 2018/822).

Das Konzept steht grds. im Einklang mit den entwickelten Vorschlägen unter Aktionspunkt 12 des OECD-Anti-BEPS-Projektes, auch wenn Aktionspunkt 12 kein sog. Minimum-Standard ist und daher nicht verpflichtend umzusetzen war. Das erklärte Ziel der EU war zum einen, die Steuerbehörden frühzeitig mit Informationen über potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuergestaltungen zu versorgen und etwa für die Finanzverwaltung frühzeitig Risikovorsorge im Bereich der Betriebsprüfungstätigkeit zu ermöglichen (Informationsfunktion). Zum anderen bestand das Ziel darin, effektivere Hindernisse für Intermediäre zu errichten, die bei illegaler Steuerhinterziehung, aber auch bei legaler Steuerumgehung Unterstützung leisten (Abschreckungswirkung).2 Im deutschen Gesetzeskontext wird als Zweck der Mitteilungspflichten eine doppelte Informationsfunktion genannt: Zum einen soll der Gesetzgeber frühzeitig die Möglichkeit erhalten, auf unerwünschte Gestaltungen durch gesetzliche Gegenmaßnahmen reagieren zu können (rechtspolitische Auswertung3), zum anderen soll die Steuerverwaltung bei den betroffenen Steuerpflichtigen gezielt ermitteln und ggf. auch Verwaltungsanweisungen erlassen können (veranlagungsunterstützende Auswertung4). Das Ziel der Abschreckung hat der deutsche Gesetzgeber hingegen mit Recht nicht aufgegriffen.

Nach intensiven Verhandlungen über den am von der EU-Kommission vorgelegten Richtlinien-Entwurf zur Einführung einer Meldepflicht und zum automatischen Informationsaustausch bei grenzüberschreitenden Steuergestaltungen konnte am eine politische Einigung im Rat der EU erzielt werden. Am folgte die formelle Annahme im Rat. Die EU-Meldepflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltungen wird im Rahmen einer Anpassung der EU-Amtshilferichtlinie (2011/16/EU) umgesetzt.

Hinweis:

Die EU-Amtshilferichtlinie, in die zuvor bereits u. a. das BEPS Country-by-Country Reporting, der Informationsaustausch über Vorabauskünfte sowie der OECD Common Reporting Standard (Finanzkonten-Informationsaustausch) aufgenommen wurde, sieht einen automatischen Informationsaustausch der gewonnenen Informationen zwischen den EU-Mitgliedstaaten vor. Nationale Wirkung in Deutschland entfaltet die EU-Amtshilferichtlinie bisher weitestgehend über das EU-Amtshilfegesetz (EUAHiG), künftig dann auch über die neuen Vorschriften in der Abgabenordnung.

Die die Meldepflicht statuierende Sechste Änderungsrichtlinie des Rates vom (Richtlinie (EU) 2018/822) zur Änderung der EU-Amtshilferichtlinie (Richtlinie 2011/16/EU) wurde schließlich am im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Am 20. Tag nach der Veröffentlichung, zum , ist die DAC6-Amtshilferichtlinie in Kraft getreten (Art. 3 Richtlinie (EU) 2018/822).

Hinweis:

Am hat die EU-Kommission den Entwurf einer redaktionell überarbeiteten Amtshilferichtlinie vorgelegt (COM (2020) 49 final vom ). Der Entwurf enthält keine inhaltlichen Neuerungen, sondern dient dem Ziel der redaktionellen Überarbeitung der seit 2011 vielfach geänderten Richtlinie. Dazu wird insbesondere die Nummerierung der Artikel angepasst, so dass die Meldeflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltung künftig in Artikel 11 statt in Artikel 8ab enthalten wäre. Eine geringfügige inhaltliche Änderung ist ggf. bei den marktfähigen Gestaltungen (vgl. ab Rz. 487 ff.) zu erwarten, bei denen der Wortlaut an die englischsprachige Richtlinie angenähert wird und die dadurch näher an das Kennzeichen A.3 rücken (vgl. ab Rz. 993 ff.). Die redaktionell überarbeitete Richtlinie wird voraussichtlich Ende 2020, Anfang 2021 beschlossen. Davon zu unterscheiden ist die inzwischen gestartete nächste Ergänzung der Richtlinie, „DAC7“, mit der neue Informationspflichten für digitale Plattformen eingeführt sowie Änderungen bei grenzüberschreitenden Betriebsprüfungen („Joint Audits“) eingeführt werden sollen (COM (2020) 314 final vom ).


III. Nationale Umsetzung und deutsches Umsetzungsgesetz

Die EU-Mitgliedstaaten mussten die DAC6-Amtshilferichtlinie bis zum in nationales Recht implementieren. Die Richtlinie ist seit dem anzuwenden. Ein Unikum stellte in diesem Zusammenhang die Regelung des Art. 8ab Abs. 12 DAC6-Amtshilferichtlinie dar, nach dem unter die Kennzeichen fallende, grenzüberschreitende Gestaltungen rückwirkend nachgemeldet werden müssen, deren erster Umsetzungsschritt ab dem Datum des Inkrafttretens () der DAC6-Amtshilferichtlinie und vor dem eigentlichen Anwendungsbeginn () unternommen wird (Vorwirkungs- bzw. Übergangszeitraum). Damit wurden die Rechtsanwender in der ersten Phase der Regelsetzung gezwungen, nur auf Basis der Richtlinie und ohne nationales Umsetzungsgesetz zu prüfen und zu dokumentieren, welche Gestaltungen nachgemeldet werden müssen. Zudem brachte die DAC6-Amtshilferichtlinie die nationalen Gesetzgeber in die missliche Lage, ihre auf der Richtlinie aufbauenden Gesetze rückwirkend erlassen zu müssen. Dies war eine unvermeidbare Folge der harten Anwendungsregelung des Art. 8ab Abs. 12 DAC6-Amtshilferichtlinie: Kein Staat hätte innerhalb der de facto bestehenden 20-Tagesfrist zwischen Veröffentlichung und Inkrafttreten ein eigenes Gesetz erlassen können, um eine Rückwirkung der nationalen Regelung zu vermeiden.

Hinweis:

Die Begriffe des Vorwirkungszeitraums bzw. Rückwirkungszeitraums bezeichnen damit grds. dasselbe und verdeutlichen lediglich die Perspektive, aus der gesprochen wird: Während die Meldepflicht aus Sicht der Richtlinie zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens noch in der Zukunft lag und es sich dementsprechend um eine Vorwirkung handelte, trat die deutsche Regelung erst zum Ende des Jahres 2019 in Kraft, so dass es sich um eine Rückwirkung handelt.

Inzwischen ergibt sich die Pflicht zur Nachmeldung von Gestaltungen aus dem jeweiligen nationalen Umsetzungsgesetz, in Deutschland beispielsweise aus § 33 Abs. 2 EGAO, der Ende 2019 in Kraft getreten ist. Jedenfalls für den Zeitraum seit dem kann deshalb nicht mehr von einer echten Rückwirkung gesprochen werden. Die betroffenen Gestaltungen sind seit dem und bis zum nachzumelden.

Die DAC6-Amtshilferichtlinie stellt wie die Amtshilferichtlinie insgesamt5 einen Mindeststandard dar, so dass Mitgliedstaaten in punkto Regelungsgehalt oder zeitlicher Wirkung darüber hinausgehen können. So waren z. B. in Polen die Regelungen bereits früher anzuwenden. Dies führte dazu, dass dort bereits vor dem Meldepflichten im Rahmen der 30-Tage-Frist des Art. 8ab Abs. 1 DAC6-Amtshilferichtlinie eingeführt wurden. Der Umfang und die Zeitpunkte des durch die Richtlinie neben der Meldepflicht statuierten zwischenstaatlichen Informationsaustausches ändern sich damit aber nicht.

Das deutsche DAC6-Umsetzungsgesetzf6 setzt die Regelungen aus der DAC6-Amtshilferichtlinie systemgerecht im Rahmen der Erfassung des Steuerpflichtigen unter den nach § 138 AO normierten Anzeigepflichten insbesondere in den neuen §§ 138d138k AO7 sowie im Finanzverwaltungsgesetz und dem EU-Amtshilfegesetz um und entspricht weitgehend einer 1:1-Umsetzung der EU-Vorgaben. Diese statuieren grds. dann eine Meldepflicht (nach deutschem DAC6-Umsetzungsgesetz: Mitteilungspflicht), wenn eine Steuergestaltung grenzüberschreitend ist und eines der sog. Kennzeichen erfüllt. Gegenüber dem Diskussionsentwurf wurde eine Vielzahl von zumeist technischen Änderungen vorgenommen. Inhaltlich wurde etwa der Geltungsbereich der unter dem Vorbehalt des „Main Benefit“-Tests stehenden Kennzeichen dahingehend eingeschränkt, dass diese dann keine Meldepflicht auslösen, wenn der durch die grenzüberschreitende Gestaltung erlangte steuerliche Vorteil unter Berücksichtigung aller Umstände als gesetzlich vorgesehen gelten kann und dies in einem BMF-Schreiben festgestellt ist, sog. „White List“ (§ 138d Abs. 3 Satz 3 AO). In den Vorstadien des Gesetzgebungsverfahrens war der gesetzlich vorgesehene Steuervorteil noch abstrakt im Gesetz definiert und stand nicht unter dem Vorbehalt eines BMF-Schreibens. Ein Verstoß gegen die Meldepflicht soll weiterhin als Ordnungswidrigkeit eingestuft und mit einer Geldbuße von bis zu 25.000 € belegt werden, wobei die Sanktionsnorm erst für Gestaltungen greift, deren erster Umsetzungsschritt nach dem erfolgt.

Das BMF hat ein umfangreiches Anwendungsschreiben zu den Mitteilungspflichten veröffentlicht, das sich zum Zeitpunkt der Drucklegung jedoch noch immer im Entwurfsstadium befand.8 In der 2. Auflage wird das BMF-Schreiben i. d. F. vom zitiert. Der Zeitpunkt für eine endgültige Veröffentlichung und mögliche weitere Änderungen stand bei der Drucklegung noch nicht fest; allerdings handelt es sich bei der Fassung vom bereits um die dritte Entwurfsfassung, was für einen relativ hohen Fertigstellungsgrad spricht.

Im Vergleich zur Richtlinie fallen im DAC6-Umsetzungsgesetz zwei Besonderheiten auf. Zum einen führt Deutschland ein spezielles Mitteilungsverfahren ein, das darauf abzielt, den Intermediär auch bei Vorliegen einer berufsrechtlichen Verschwiegenheitspflicht in Verantwortung zu nehmen. Die Pflicht zur partiellen, anonymisierten Meldung fällt nun auch im Fall des Bestehens einer Verschwiegenheitspflicht immer auf den Intermediär. Die Pflicht zur vollständigen, personalisierten Meldung trifft den Intermediär bei Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht durch den Mandanten. In jedem Fall müssen die Intermediäre ihre Mandanten unverzüglich über das Bestehen einer Meldepflicht und die Möglichkeit der Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht informieren, um die Pflicht zur personalisierten Meldung auf den Mandanten zu verlagern. Der Mandant kann aber auch im Fall einer Verschwiegenheitspflicht die vollständige Meldung inkl. der für den Intermediär vorgesehenen Teile abgeben, wenn er dies möchte bzw. wenn dies vereinbart wird. Zum anderen hat der Bundestag eine spezielle Ermächtigungsklausel in das Gesetz aufgenommen, nach der das BMF in Abstimmung mit den Ländern im Zusammenhang mit dem „Main Benefit“-Test bestimmte Fallgruppen von der Mitteilungspflicht ausnehmen kann (sog. „White List“), bei denen pauschal angenommen wird, dass kein Steuervorteil im Sinne des „Main Benefit“-Tests besteht. Diese Regelung, mit der die Finanzverwaltung ermächtigt wird, einseitig zu bestimmen, bei welchen Fallgruppen kein steuerlicher Vorteil anzunehmen sei, muss europarechtlich als fraglich qualifiziert werden. Der Begriff des Steuervorteils ist europarechtlich autonom und im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Richtlinie einheitlich auszulegen bzw. zu bestimmen. Dieses obliegt der Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten frühestens anlässlich der Bewertung der Kennzeichen nach dem (Art. 27 Abs. 2 der EU-Amtshilferichtlinie) oder der Rechtsprechung des EuGH. Dessen ungeachtet steht es der Finanzverwaltung wie üblich frei, Gesetze auszulegen, die auf EU-Richtlinien basieren.

Trotz der im Vorfeld teilweise heruntergespielten Tragweite der Meldepflicht ist im Rahmen der gesetzlichen Umsetzung und insbesondere während der Rückwirkungsphase und mit der Abgabe der ersten Mitteilungen seit dem deutlich geworden, dass die DAC6 insbesondere für Intermediäre und Steuerpflichtige, aber auch für die Finanzverwaltung eine erhebliche Zusatzbelastung bedeutet. Dies gestand der Gesetzentwurf der Bundesregierung auch ein: „Die mitteilungspflichtigen Tatbestände sind entsprechend der [DAC6-Amtshilferichtlinie] sehr umfassend. Ohne die genaue Anzahl der Mitteilungen vorausberechnen zu können, ist mit einer spürbaren Belastung der Intermediäre durch den Erfüllungsaufwand zu rechnen. Für die Wirtschaft entsteht hoher einmaliger und laufender Erfüllungsaufwand.“9 […] „Aufgrund der weitgefassten Mitteilungspflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen und der Anzahl der in Deutschland steuerpflichtigen Unternehmen (ca. 3,37 Mio.) wird von einer Größenordnung an Meldungen im fünfstelligen Bereich ausgegangen.“10 Auch wenn der Erfüllungsaufwand keine absolute Entsprechung auf Seiten der Steuerbehörden haben wird, werden immer noch genügend Sachverhalte übrigbleiben, die (vorsichtshalber) gemeldet werden und daher auch zu prüfen sind. Dies wird staatlicherseits erhebliche Bürokratiekosten verursachen und das zusätzliche Steueraufkommen, das durch die Schließung von Steuerschlupflöchern möglicherweise erzielbar ist, jedenfalls zum Teil einer anderweitigen Verwendung im Staatshaushalt entziehen. Die Kosten auf Seiten des Bundes (BZSt, Generalzolldirektion und Informationstechnikzentrum Bund) schätzte der Regierungsentwurf in den Jahren 2020 bis 2022 auf ca. 21–23 Mio. €.11 Ein erheblicher Anteil der Kosten entsteht durch den Aufbau der IT-Infrastruktur, die auch KI-gestützte Tools zur Auswertung der Mitteilungen beinhaltet. Da komplexe Steuergestaltungen bis auf weiteres nicht ausschließlich elektronisch ausgewertet werden können, wird die DAC6 dauerhaft auch personelle Ressourcen der Finanzverwaltung binden. Anfang 2020 hieß es, allein beim BZSt seien 50 Personen für die Auswertung der Mitteilungen abgestellt. Hinzu kommen die Kosten der Länderebene, die in den vorgenannten Zahlen noch nicht enthalten sind.

Fundstelle(n):
NWB GAAAH-65741
NWB IAAAH-65749

Anzeigepflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen

Vorwirkung u. Dokumentationserfordernisse. Voraussetzungen u. Umfang d. Meldepflicht. Detaillierte Betrachtung d. einzelnen „Kennzeichen“. Ausblick: Anzeigepflichten f. nationale Steuergestaltungen.

Von Rechtsanwalt Professor Dr. jur. Klaus von Brocke, Diplom-Volkswirt Dipl.-Kaufmann Roland Nonnenmacher und Rechtsanwalt Stefan Przybilka

2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. 2020. XXXIII, 521 Seiten. Broschur.
ISBN: 978-3-482-59252-2

Preis: 69,00 €


1BGBl 2019 I S. 2875.

2Vgl. Rat der EU, Verpflichtender automatischer Informationsaustausch im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Modelle, Politische Einigung v. - Dok. 6804/48 FISC 103 ECOFIN 206 Nr. 2; Rat der EU, Mitteilung der Kommission über eine externe Strategie für effektive Besteuerung und Empfehlung der Kommission zur Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung des Missbrauchs von Steuerabkommen, Schlussfolgerungen des Rates v. - Dok. 9452/16 FISC 85 ECOFIN 502 Nr. 12.

3BMF, Schreiben in der Entwurfsfassung v. - IV A 3 - S 0304/19/10006 :008; im Folgenden zitiert als BMF, Schreiben zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen, Stand , Rz. 3; Regierungsentwurf v. , S. 21.

4BMF, Schreiben zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen, Stand , Rz. 3; Regierungsentwurf v. , S. 21.

5Richtlinie 2011/16/EU des Rates v. , Erwägungsgrund 21.

6Gesetz zur Einführung einer Mitteilungspflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltungen v. , BGBl 2019 I S. 2875.

7Vgl. auch zukünftige Online-Aktualisierungen in Zugmaier, AO-Online-Kommentar, NWB QAAAG-97867.

8BMF, Schreiben zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen, Stand .

9Regierungsentwurf v. , S. 23.

10Regierungsentwurf v. , S. 25.

11Regierungsentwurf v. , S. 25.

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