Online-Nachricht - Donnerstag, 07.08.2025

Verfahrensrecht | Anlauf­hem­mung bei der Fest­setzungs­frist für Haf­tungs­bescheide (BFH)

Aus der Verweisung in § 191 Abs. 3 Satz 1 AO folgt, dass die An­lauf­hem­mung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch bei der Inan­spruch­nahme von Haf­tungs­schuld­nern anzu­wenden ist, wenn der Haf­tungs­schuld­ner auf­grund gesetz­licher Pflich­ten (§§ 3435 AO) Steuer­erklä­rungen oder Steuer­anmel­dungen für einen Vertre­tenen abzu­geben hat (BFH, Urteil v. 18.3.2025 - VII R 20/23; veröf­fent­licht am 7.8.2025).

Hintergrund: Gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO beginnt die Fest­setzungs­frist, wenn eine Steuer­erklärung oder eine Steuer­anmel­dung einzu­reichen oder eine Anzeige zu erstat­ten ist, mit Ablauf des Kalender­jahres, in dem die Steuer­erklärung, die Steuer­anmel­dung oder die Anzeige einge­reicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des drit­ten Kalender­jahres, das auf das Kalender­jahr folgt, in dem die Steuer ent­standen ist, es sei denn, dass die Fest­setzungs­frist nach § 170 Abs. 1 AO später beginnt.

Sachverhalt: Der Kläger war in den Jahren 2006 bis 2011 Geschäfts­führer der X-GmbH. Für diese Jahre hatte die X-GmbH keine Steuer­erklä­rungen abgegeben. Infolge einer Betriebs­prüfung im Jahr 2014, in deren Verlauf die X-GmbH Steuer­erklä­rungen abgegeben hatte, setzte das Finanzamt (FA) Bescheide gege­nüber der X-GmbH mit den rück­ständigen Steuer­forde­rungen fest. Im Jahr 2015 eröffnete die X-GmbH das Insol­venz­verfahren. Wegen der nicht recht­zeitigen Abgabe der Steuer­erklä­rungen nahm das FA den Kläger mit Bescheid vom 13.4.2016 gemäß § 69 AO für die Steuer­rück­stände der X-GmbH in Haftung. Das FA nahm den Haftungs­bescheid im Jahr 2017 unter Verweis auf § 130 Abs. 1 AO zurück.

Im Jahr 2017 erließ das Amtsgericht einen Straf­befehl gegenüber dem Kläger in dem es den Kläger auf­grund der vorsätz­lich verspäteten Abgabe von Umsatz­steuer­erklärungen für die Jahre 2007 bis 2012 der Steuer­hinter­ziehung für schuldig befand. Mit Bescheid vom 7.5.2018 nahm das FA den Kläger mit Bezug auf § 71 AO erneut für die Steuer­rückstände der X GmbH in Haftung, beschränkt auf die Umsatz­steuer 2006 bis 2011 und die Körper­schaft­steuer 2010 nebst Solida­ritäts­zuschlag sowie erweitert um Zinsen gemäß § 235 AO zur Umsatz­steuer 2011.

Die hiergegen erhobene Klage wurde abge­wiesen und der Haftungs­bescheid bezüglich der Umsatzsteuer 2006 aufge­hoben (FG Düssel­dorf, Urteil v. 13.6.2022 - 8 K 45/19 H). Grund­sätzlich habe der Kläger für die Steuer­schulden der X GmbH gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 71 AO in Haftung genom­men werden können. Der Tat­bestand einer vorsätz­lichen Steuer­hinter­ziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sei erfüllt gewesen. Jedoch sei hinsicht­lich der Haftung für die Umsatzsteuer 2006 bei Erlass des Haftungs­bescheids vom 7.5.2018 bereits die zehnjährige Festsetzungsfrist abgelaufen gewesen. Trotz fehlender Abgabe von Steuer­erklä­rungen sei der Beginn der Fest­setzungs­frist nicht nach § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gehemmt gewesen.

Die Richter des BFH sahen die Revision des FA als begründet an und hoben das FG-Urteil auf:

  • Für die streitige Haftung für die Umsatzsteuer 2006 war - entgegen der Auffas­sung des FG - keine Fest­setzungs­verjährung einge­treten.

  • Nach der Rechtsprechung des BFH beginnt die Fest­setzungs­frist für eine Haftung eines Ent­richtungs­schuldners, wenn der haftungs­begrün­dende Pflichten­verstoß darin begründet ist, dass eine Steuer­anmeldung (Entrich­tungs­steuer) nicht abgegeben wurde, mit Ablauf des Kalender­jahres, in dem die Steuer­anmeldung einge­reicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalender­jahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (vgl. u.a. BFH, Urteil v. 15.1.2015 - I R 33/13, Rz 22).

  • Bislang nicht vollständig geklärt ist die Frage, ob die von der Recht­sprechung zur Anlauf­hemmung der Fest­setzungs­frist für die Haftung von Ent­richtungs­schuldnern entwickelte Recht­sprechung auch allge­mein für Haftungs­schuldner im Sinne des § 191 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO gilt, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetz­licher Pflichten (§§ 3435 AO) Steuer­erklä­rungen oder Steuer­anmel­dungen für einen Vertre­tenen abzu­geben hat.

  • Aus der Verweisung in § 191 Abs. 3 Satz 1 AO folgt, dass die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch bei der Inanspruch­nahme von Haftungs­schuldnern anzu­wenden ist, wenn der Haftungsschuldner aufgrund gesetz­licher Pflichten (§§ 3435 AO) Steuer­erklärungen oder Steuer­anmeldungen für einen Ver­tretenen abzu­geben hat (vgl. Senatsbeschluss v. 22.6.2011 - VII S 1/11, Rz 27).

  • Im Streitfall war für die Umsatz­steuer 2006 keine Fest­setzungs­verjährung einge­treten. Da der Kläger als Geschäfts­führer erst im Verlauf der Betriebs­prüfung die Steuer­erklärungen für die X GmbH für das Jahr 2006 abge­geben hatte, begann die Fest­setzungs­frist - unter Berück­sichti­gung der Anlaufhemmung gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO - mit Ablauf des Kalender­jahres 2009 und endete gemäß § 191 Abs. 3 Satz 2 AO mit Ablauf des 31.12.2019, da es sich um einen Fall des § 71 AO handelte. Der Haftungsbescheid vom 7.5.2018 erging inner­halb der Verjährungs­frist.

  • Nach Aufhebung eines voran­gegan­genen Haftungs­bescheids bestehen Einschrän­kungen für den Neuerlass eines Haftungs­bescheids nach § 130 Abs. 2 AO beziehungsweise nach den Grundsätzen von Treu und Glauben insoweit nicht, als der aufgehobene und der erneute Haftungsbescheid nicht denselben Sach­verhalt betreffen. Das ist insbe­sondere der Fall, wenn die Inan­spruch­nahme auf einer anderen Haftungs­norm beruht (vgl. Senats­beschluss v. 18.2.1992 - VII B 237/91).

  • Demnach stand dem Erlass des ange­fochtenen Haftungs­bescheids hinsicht­lich der Haftung für Umsatz­steuer 2006 kein Ver­trauens­schutz des Klägers entgegen, da die Haftungs­bescheide vom 13.4.2016 und vom 7.5.2018 nicht denselben Sachverhalt betrafen. Zudem erfolgte die Inan­spruch­nahme des Klägers im zweiten Bescheid auf der Grund­lage einer anderen Haftungs­norm, und zwar § 71 AO anstatt zuvor § 69 AO.

  • Hat der BFH die Revision nur wegen eines selbständig anfechtbaren Teils des Urteils des Finanz­gerichts zugelassen, ist eine Anschluss­revision hinsicht­lich eines anderen Teils unzu­lässig.

Quelle: BFH, Urteil v. 18.3.2025 - VII R 20/23; NWB Datenbank (lb)

 
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im VII. Senat des BFH Dr. Fabian Schmitz-Herscheidt gelangen Sie hier (Login erforder­lich).