Online-Nachricht - Donnerstag, 07.08.2025
Verfahrensrecht | Keine Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen bei Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (BFH)
Ein nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO für vorläufig erklärter Steuerbescheid kann nicht gemäß § 165 Abs. 2 AO zu Lasten des Steuerpflichtigen geändert werden (BFH, Urteil v. 29.4.2025 - VI R 14/23; veröffentlicht am 7.8.2026).
Hintergrund: Soweit die Finanzbehörde eine Steuer vorläufig festgesetzt hat, kann sie die Festsetzung aufheben oder ändern. Wenn die Ungewissheit beseitigt ist, ist eine vorläufige Steuerfestsetzung aufzuheben, zu ändern oder für endgültig zu erklären; eine ausgesetzte Steuerfestsetzung ist nachzuholen. In den Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 muss eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 Satz 2 nur auf Antrag des Steuerpflichtigen für endgültig erklärt werden, wenn sie nicht aufzuheben oder zu ändern ist (§ 164 Abs. 2 Satz 1, 2 und 4 AO).
Nach § 9 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG sind Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine Berufsausbildung oder für sein Studium nur dann Werbungskosten, wenn der Steuerpflichtige zuvor bereits eine Erstausbildung (Berufsausbildung oder Studium) abgeschlossen hat oder wenn die Berufsausbildung oder das Studium im Rahmen eines Dienstverhältnisses statfindet. Eine Berufsausbildung als Erstausbildung nach Satz 1 liegt vor, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird.
Sachverhalt: Die Klägerin studierte nach einer dreimonatigen Ausbildung zur Rettungssanitäterin in den Jahren 2011 bis 2016 Medizin. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 2015 und 2016 machte sie die Kosten hierfür als (vorab entstandene) Werbungskosten (Ausbildungskosten) nach § 9 Abs. 6 EStG geltend.
Abweichend von der gesetzlichen Regelung des § 9 Abs. 6 EStG, der eine Mindestdauer der Erstausbildung von zwölf Monaten vorsieht, erkannte das FA die Aufwendungen als Werbungskosten für eine Zweitausbildung an. Die Bescheide ergingen hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung unter einem Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Im Vorläufigkeitsvermerk wurde ausgeführt, die Vorläufigkeitserklärung erfasse die Frage, ob § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG mit höherrangigem Recht vereinbar sei.
Nachdem das BVerfG mit Beschluss v. 19.11.2019 - 2 BvL 22/14, 2 BvL 23/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 27/14 entschieden hatte, dass § 9 Abs. 6 EStG verfassungsgemäß sei, änderte das FA im Jahr 2021 die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 AO und erkannte die Aufwendungen nun nicht mehr an. Die ursprünglichen Steuerfestsetzungen der Streitjahre seien daher zu Lasten der Klägerin zu ändern.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte in erster Instanz Erfolg (FG Köln, Urteil v. 12.7.2023 - 3 K 1356/22).
Die Richter des BFH wiesen die hiergegen gerichtete Revision des FA zurück:
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Das FA war nicht gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 und 2 AO befugt, die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre, in denen vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt wurden, zu ändern.
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§ 165 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO erlaubt die Korrektur einer rechtswidrigen, nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufigen Steuerfestsetzung (weder zu Lasten noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen) nicht (s. bereits BFH, Urteil v. 30.11.2023 - IV R 13/21, Rz 35).
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Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 165 Abs. 2 Satz 1 AO sind die Finanzbehörden lediglich "soweit" zur Änderung befugt, als sie die Steuer vorläufig festgesetzt haben. Es handelt sich deshalb bei § 165 Abs. 2 AO nicht um eine allgemeine Korrekturvorschrift betreffend die Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung. Vielmehr erlaubt der Umstand, dass eine Steuer vorläufig festgesetzt wurde, Änderungen nur insoweit, als sie dem durch die Vorläufigkeitsvermerke gesteckten Änderungsrahmen entsprechen. Im Übrigen wird die Steuerfestsetzung bestandskräftig und kann nur nach den §§ 172 ff. AO geändert oder gemäß § 129 AO berichtigt werden.
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Ist die Festsetzung der Einkommensteuer - wie im Streitfall - gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO wegen eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht für vorläufig erklärt worden, kann die Einkommensteuerfestsetzung nur im Hinblick auf eine die Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht bestätigende Entscheidung des BVerfG aufgehoben oder geändert werden.
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Bestätigt das BVerfG die Vereinbarkeit des Steuergesetzes - hier § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG - mit höherrangigem Recht, besteht hingegen kein Korrekturbedarf - eine Änderung der Steuerfestsetzung ist mithin ausgeschlossen. Die Frage nach der zutreffenden Anwendung des Steuergesetzes, welches mit höherrangigem Recht vereinbar ist, also die Frage nach der materiellen Richtigkeit der bisherigen Steuerfestsetzung, stellt sich insoweit nicht.
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Sinn und Zweck einer auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestützten, vorläufigen Steuerfestsetzung streiten ebenfalls dafür, dass deren Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen auch bei vorliegender Rechtswidrigkeit nicht auf § 165 Abs. 2 AO gestützt werden kann. Denn der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO dient der Vermeidung von Massenrechtsbehelfen und damit der Entlastung der Steuerpflichtigen, der Finanzbehörden und der Gerichte in Fällen von anhängigen Musterverfahren. Er ermöglicht dem FA damit eine vorläufige Steuerfestsetzung im Rahmen der geltenden Steuergesetze. Demgegenüber wird dem FA dadurch nicht die Möglichkeit eröffnet, die Steuer - im Hinblick auf eine mögliche Unvereinbarkeit des anzuwendenden Steuergesetzes mit höherrangigem Recht - abweichend von der geltenden Rechtslage vorläufig festzusetzen.
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Ein Änderungsbedarf ergibt sich danach nicht, falls das BVerfG die Vereinbarkeit des von der Verwaltung vorläufig angewandten Steuergesetzes mit der Verfassung bestätigt. Nur falls das BVerfG das zu Lasten des Steuerpflichtigen wirkende Steuergesetz als nicht mit der Verfassung vereinbar erklärt, ist der vorläufige Bescheid zu seinen Gunsten zu ändern.
Quelle: BFH, Urteil v. 29.4.2025 - VI R 14/23; NWB Datenbank (il)
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im VI. Senat des BFH Dr. Stephan Geserich gelangen Sie hier (Login erforderlich).