Online-Nachricht - Donnerstag, 25.09.2025
Verfahrensrecht | Zulässigkeit einer Schätzung nach der amtlichen Richtsatzsammlung (BFH)
Es bestehen gegenwärtig erhebliche Zweifel, ob die amtliche Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form eine geeignete Grundlage für einen äußeren Betriebsvergleich darstellt (BFH, Urteil v. 18.6.2025 - X R 19/21; veröffentlicht am 25.9.2025).
Sachverhalt: Die Sache befindet sich im zweiten Rechtsgang.
Der Kläger betrieb in den Streitjahren 2013 und 2014 eine Diskothek. Eine für die Streitjahre durchgeführte Außenprüfung beanstandete die Kassen- und Buchführung des Klägers als formell ordnungswidrig. Die Diskothek war mit bis zu fünf offenen Ladenkassen betrieben worden, deren Tagesgesamteinnahmen auf Zetteln erfasst und an die Buchhaltung übergeben worden waren; Kasseneinzelaufzeichnungen hatte der Kläger nicht vorlegen können. Infolgedessen nahm der Prüfer Hinzuschätzungen vor.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte in der Sache im ersten Rechtsgang vor dem FG Hamburg teilweise Erfolg. Zwar beanstandete das FG sowohl die Schätzungsmethode als auch das Schätzungsergebnis des FA. In Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis schätzte es im ersten Rechtsgang die Getränkeumsätze nach Maßgabe eines äußeren Betriebsvergleichs. Dabei orientierte sich das FG im bei dem von ihm zugrunde gelegten Rohgewinnaufschlagsatz von 300 % zum einen an der vom BMF veröffentlichten Richtsatzsammlung, die für Gastronomiebetriebe in den Streitjahren Rohgewinnaufschlagsätze zwischen 186 % und 400 % (RSS 2013) und zwischen 186 % und 376 % (RSS 2014) sowie einen Mittelwert von jeweils 257 % ausweist. Zum anderen berief es sich auf einen nur für den Dienstgebrauch der Finanzverwaltung erstellten Erfahrungsbericht vom 23.5.2017 über Betriebsprüfungen bei Diskotheken (sog. Fachinfosystem Bp NRW, FG Hamburg, Urteil v. 3.9.2019 - 2 K 218/18, s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 10.8.2020).
Der BFH hob diese Entscheidung mit Beschluss v. 28.5.2020 - X B 12/20 auf. Das Gericht sah den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs als verletzt an, da das FG auf das "Fachinfosystem Bp NRW" zurückgegriffen hatte, ohne zuvor die hieraus entnommenen Erkenntnisse dem Kläger inhaltlich zugänglich gemacht zu haben.
Im zweiten Rechtsgang bestätigte das FG sein bisheriges Ergebnis, griff für den Ansatz eines Rohgewinnaufschlagsatzes von 300 % aber nur noch auf die Richtsatzsammlung des BMF zurück (FG Hamburg, Urteil v. 13.10.2020 - 2 K 218/18, s. hierzu Rätke, BBK 9/2022 S. 400).
Auf die Revision des Klägers forderte der BFH das BMF auf, dem Revisionsverfahren beizutreten, um u.a. zu der Frage Stellung zu nehmen, ob und - wenn ja - unter welchen Voraussetzungen ein äußerer Betriebsvergleich in Gestalt einer Schätzung anhand der Richtsätze der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF zulässig ist (BFH, Beschluss v. 14.12.2022 - X R 19/21; s. hierzu Beyer, NWB 33/2023 S. 2299, Seifert, StuB 11/2023 S. 471 sowie unsere Online-Nachricht v. 2.3.2023 mit Anmerkung Nöcker). Dem ist das BMF gefolgt (Einzelheiten zur Stellungnahme s. Rn 20 ff. der vorliegenden Entscheidung).
Die Richter des BFH hoben das Urteil des FG Hamburg auf und wiesen die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück:
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Werden in einem Betrieb vorwiegend Bargeschäfte getätigt, können Mängel der Kassenführung der gesamten Buchführung die Ordnungsmäßigkeit nehmen, mit der Folge, dass FA und FG dem Grunde nach zur Schätzung befugt sind.
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FA und FG sind in der Wahl ihrer Schätzungsmethoden grundsätzlich frei. Jedoch ist diese Freiheit bei mehreren in Betracht kommenden Schätzungsmethoden nach den allgemeinen für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens (§ 5 AO) geltenden Grundsätzen eingeschränkt.
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Im Rahmen der Ermessensausübung sind tendenziell ungenauere Schätzungsmethoden gegenüber genaueren Schätzungsmethoden nachrangig. In der Regel ist der innere Betriebsvergleich im Verhältnis zum äußeren Betriebsvergleich als die zuverlässigere Schätzungsmethode anzusehen.
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FA und FG müssen das Ergebnis ihrer Schätzung nachvollziehbar begründen. Eine fehlende oder nicht nachvollziehbare Begründung kann zu einem sachlich-rechtlichen Mangel des Urteils führen, der auch ohne besondere Rüge vom Revisionsgericht beanstandet werden kann.
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Eine Diskothek lässt sich keiner der in der amtlichen Richtsatzsammlung aufgeführten Gewerbeklassen zuordnen.
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Die Finanzverwaltung darf zur Ermittlung von Vergleichsdaten Datenbanken aufbauen und verwenden, auch wenn diese nicht allgemein zugänglich sind, und es ist zulässig, Vergleichsdaten mit Hilfe von Datenbanken zu ermitteln.
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Allerdings muss die im Einzelfall zu verwendende Datenbank Mindestanforderungen an die Qualität der Datenerfassung erfüllen. Die Gerichte können deshalb gehalten sein, Rückfragen über die Zusammenstellung und Ableitung der anonymisierten Vergleichsdaten zu stellen.
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Können solche Fragen aus Gründen des Steuergeheimnisses oder aus anderen Gründen nicht beantwortet werden, geht dies zu Lasten des Beweiswertes der Vergleichsdaten (Anschluss an BFH, Urteil v. 17.10.2001 - I R 103/00, BStBl II 2004, 171, unter III.A.2.c cc).
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Es bestehen gegenwärtig erhebliche Zweifel, ob die amtliche Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form eine geeignete Grundlage für einen äußeren Betriebsvergleich darstellt.
Quelle: BFH, Urteil v. 18.6.2025 - X R 19/21; NWB Datenbank (il)
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im X. Senat des BFH Prof. Dr. Gregor Nöcker gelangen Sie hier (Login erforderlich).