Online-Nachricht - Donnerstag, 09.10.2025

Verfahrensrecht | Zur Unkenntnis der Finanz­behörde bei einer Steuer­hinter­ziehung durch Unter­lassen (BFH)

Zur Beantwor­tung der Frage, ob die Finanz­behörde Kennt­nis von den für die Steuer­fest­setzung wesent­lichen tat­säch­lichen Um­ständen hat, ist auf die­jenigen Per­sonen abzu­stel­len, die inner­halb der zu­ständi­gen Finanz­behörde organi­sationsm­äßig für die Bear­bei­tung des Steuer­falls beru­fen sind bzw. die den (zu ändern­den) Steuer­bescheid erlas­sen haben. Elek­tro­nische Daten, die nicht auto­matisch zur Papier­akte/elek­tro­nischen Akte gelan­gen, son­dern ledig­lich auf Daten­speichern der Finanz­behörde zum Ab­ruf bereit­liegen, sind nicht schon des­halb bekannt im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, weil sie mit der Steuer­num­mer des Steuer­pflich­tigen ver­knüpft sind (BFH, Urteil v. 14.5.2025 - VI R 14/22; veröf­fent­licht am 9.10.2025).

Hintergrund: Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuer­fest­setzung nicht mehr zulässig, wenn die Fest­setzungs­frist abge­laufen ist. Die Fest­setzungs­frist beträgt für die Einkommen­steuer gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO grundsätzlich vier Jahre. Sie beträgt nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO zehn Jahre, soweit eine Steuer hinter­zogen, und fünf Jahre, soweit eine Steuer leicht­fertig verkürzt worden ist.

Gemäß § 170 Abs. 1 AO beginnt die Fest­setzungs­frist mit Ablauf des Kalender­jahres, in dem die Steuer entstanden ist. Ist eine Steuer­erklärung einzu­reichen, beginnt die Fest­setzungs­frist abweichend mit Ablauf des Kalender­jahres, in dem die Steuererklärung einge­reicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalender­jahres, das auf das Kalender­jahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).

Sachverhalt: Die Kläger sind zusammen­veran­lagte Eheleute. Da bis einschließ­lich 2008 lediglich der Ehemann Arbeits­lohn bezog, hatte das Finanzamt den Fall als Antrags­veran­lagung gespeichert.

In den Streitjahren 2009 und 2010 erzielte auch die Ehefrau Einkünfte aus nicht­selbst­ständiger Arbeit. Der Lohn­steuer­abzug erfolgte bei den Klägern nach den Steuer­klassen III (Kläger) und V (Klägerin). Ihr Steuerfall blieb beim FA als Antrags­veran­lagung gespeichert.

Die elektro­nischen Lohn­steuer­bescheini­gungen wurden im Daten­verar­beitungs­programm des Finanzamts unter der Steuer­nummer der Kläger erfasst. Außer­dem händigten die Arbeitgeber den Klägern Ausdrucke der jeweiligen elektronischen Lohn­steuer­bescheini­gungen aus, auf denen vermerkt war, dass die Daten maschinell an die Finanzverwaltung übertragen worden seien.

Steuererklärungen reichten die Kläger für die Streitjahre nicht mehr ein. Auffor­derungen zur Abgabe der Ein­kommen­steuer­erklärun­gen erließ das FA nicht, da der Fall weiterhin als Antrags­veran­lagung gespeichert war.

Nachdem Anfang 2028 dem Finanzamt aufge­fallen war, dass mit der Aufnahme der nicht­selbstän­digen Arbeit durch die Klägerin die Voraus­setzungen für eine Pflicht­veran­lagung vorlagen, erließ es im Mitte 2018 für die Streit­jahre 2009 und 2010 Schätzungsbescheide.

Hiergegen machten die Kläger geltend, dass Fest­setzungs­verjährung einge­treten sei. Das Finanzamt ging demgegen­über von einer verlängerten Fest­setzungs­frist wegen voll­endeter Steuer­hinter­ziehung aus.

Das FG der ersten Instanz gab der hiergegen gerich­teten Klage statt. Es war im Wesent­lichen der Ansicht, dass der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch Unter­lassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) nicht erfüllt sei, weil dem zuständigen Bearbeiter die für eine Veran­lagung der Kläger erforder­lichen Infor­mationen abrufbar zur Verfügung gestanden hätten. Das FA habe deshalb zum maßgeb­lichen Veran­lagungs­zeit­punkt von den für die Steuer­fest­setzung wesent­lichen tatsäch­lichen Umständen Kenntnis gehabt (FG Münster, Urteil 24.6.2022 - 4 K 135/19 E, s. hierzu unsere Online-Nach­richt v. 15.8.2022 sowie Steuern mobil 10/.2022 v. 1.10.2022).

Auf die Revision des FG hoben die Richter des BFH das Urteil auf und wiesen die Sache zur ander­weitigen Verhand­lung und Ent­scheidung zurück:

  • Die Kläger waren gem. § 149 Abs. 1 Satz 1 AO und § 25 Abs. 3 EStG i.V.m. § 56 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStDV und § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG für die Streit­jahre zur Abgabe von Steuer­erklärun­gen verpflichtet.

  • Die Festsetzungsfrist begann daher für das Streit­jahr 2009 mit Ablauf des 31.12.2012 und für das Streit­jahr 2010 mit Ablauf des 31.12.2013. Sie lief mithin grundsätz­lich am 31.12.2016 beziehungs­weise am 31.12.2017 ab.

  • Das FG ist zu Unrecht davon ausge­gangen, dass vorliegend eine Verlänge­rung der regulären Fest­setzungs­frist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 370378 Abs. 1 AO deshalb nicht in Betracht komme, weil das FA zum maßgeb­lichen Veran­lagungs­zeitpunkt von den für die Steuer­fest­setzung wesent­lichen tatsäch­lichen Umständen Kenntnis gehabt habe und der objektive Tatbestand einer Steuer­hinter­ziehung durch Unter­lassen beziehungs­weise einer leicht­fertigen Steuer­verkür­zung daher nicht erfüllt sei.

  • Zur Beantwortung der Frage, ob die Finanz­behörde Kenntnis von den für die Steuer­fest­setzung wesent­lichen tatsäch­lichen Umständen hat, ist auf die­jenigen Personen abzu­stellen, die inner­halb der zustän­digen Finanz­behörde organisationsmäßig für die Bearbeitung des Steuer­falls berufen sind be­ziehungs­weise die den (zu ändernden) Steuer­bescheid erlassen haben (vgl. auch BGH, Urteil v. 19.10.1999 - 5 StR 178/99, BStBl II 1999, 854, unter II.1. zu § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO).

  • Die Finanzbehörde muss sich danach den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Papier­akten, aber ebenso auch einer elektro­nisch geführten Akte als bekannt zurechnen lassen.

  • Bekannt sind neben dem Inhalt dieser geführten Akten auch sämt­liche Infor­mationen, die dem Sach­bearbeiter von anderen (Dienst )Stellen über ein elektro­nisches Infor­mations­system zur Verfü­gung gestellt werden, ohne dass es insoweit auf die indivi­duelle Kenntnis des jewei­ligen Bear­beiters ankommt.

  • Nicht bekannt sind dagegen elektro­nische Daten, die nicht auto­matisch zur Papier­akte/elektro­nischen Akte gelangen und lediglich auf abruf­baren Daten­speichern der Finanz­behörde liegen. Dies gilt auch dann, wenn die Daten - wie im Streit­fall - mit der Steuer­nummer verknüpft sind. Dies ergibt sich aus dem verfas­sungs­recht­lichen Bestimmt­heits­gebot des Art. 103 Abs. 2 GG i.V.m. § 1 StGB.

  • Nach diesen Grundsätzen ist das FG zu Unrecht von einer den Tat­bestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO aus­schließen­den Kenntnis des sach­lich zustän­digen Bear­beiters im maßgeb­lichen Veran­lagungs­zeit­punkt ausge­gangen.

  • Nach den bindenden Feststel­lungen des FG blieb der Steuer­fall der Kläger auch in den Streit­jahren als Antrags­veranlagung gespeichert. Die mit den elektro­nischen Lohn­steuer­bescheini­gungen an das FA über­mittelten Daten waren zwar mit der gemein­samen Steuer­nummer der Kläger verknüpft und dieser tatsäch­lich zugeordnet. Sie waren aber nur aus einem Daten­speicher in einer Übersicht über elektro­nische Beschei­ni­gungen abruf­bar, ohne dass sie bereits automatisch zu einer Papierakte oder elektro­nischen Akte gelangt waren.

  • Angesichts der Speicherung als Antrags­veran­lagung bestand für den Bear­beiter keine Veranlas­sung zur Einsicht in den Daten­speicher und zum Daten­abruf. Kenntnis von dem steuer­rele­vanten Tatbestand hat der sachlich zuständige Bearbeiter vielmehr erstmals Anfang des Jahres 2018 durch die von der OFD … über­sandte eDaten-Prüf­liste erlangt.

  • Das FG ist von anderen Rechts­grund­sätzen ausge­gangen. Es hat daher - von seinem Stand­punkt aus zu Recht - insbe­sondere keine hin­reichen­den Fest­stel­lungen zum subjektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO beziehungs­weise für das Streit­jahr 2010 gege­benen­falls einer leicht­fer­tigen Steuer­verkür­zung (§ 378 AO) getroffen.

  • Dies hat das FG im zweiten Rechts­gang nachzu­holen.

Quelle: BFH, Urteil v. 14.5.2025 - VI R 14/22; NWB Datenbank (il)

 
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im VI. Senat des BFH Dr. Stephan Geserich gelangen Sie hier (Login erforder­lich).