Online-Nachricht - Donnerstag, 09.10.2025

Verfahrensrecht | Wieder­ein­setzung in den vori­gen Stand: Kein Erfor­der­nis der An­for­de­rung einer Lese­bestäti­gung bei Über­sendung eines Ein­spruchs per E-Mail (BFH)

Wird ein Einspruch per E-Mail einge­legt, so ist das Unter­lassen der An­forde­rung einer Empfangs- oder Lese­bestäti­gung ohne Ein­fluss auf das Ver­schul­den der Frist­ver­säum­nis im Rahmen eines Wieder­ein­setzungs­antrags (BFH, Urteil v. 29.4.2025 - VI R 2/23; veröf­fent­licht am 9.10.2025).

Hintergrund: War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetz­liche Frist einzu­halten, so ist ihm nach § 110 Abs. 1 Satz 1 AO auf Antrag Wieder­einsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Verschulden eines Vertreters ist dabei dem Vertre­tenen zuzurechnen (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO). Nach § 110 Abs. 2 AO muss der Antrag innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hinder­nisses gestellt und die versäumte Handlung nachgeholt werden.

Sachverhalt: Mit Einkommen­steuer­bescheiden vom 8.8.2018 setzte das Finanzamt (FA) die Einkommen­steuer des Klägers für die Streitjahre 2015 bis 2017 fest. Dabei erkannte es nicht alle vom Kläger geltend gemachten Werbungskosten an. Am 31.5.2019 teilte ein Mitarbeiter des Prozess­bevoll­mächtigten des Klägers, der Zeuge Y, dem FA per E-Mail mit, er habe am 29.5.2019 mit dem FA telefonisch Rücksprache gehalten und dabei erfahren, dass dort kein Einspruch gegen die Ein­kommen­steuer­bescheide vorliege. Er bitte um Bear­beitung des Einspruchs, welcher dem FA bereits zum 30.8.2018 zugegangen sei. Als Anhang war dieser E-Mail ein Ausdruck der vom Prozess­bevoll­mächtigten unter­schriebenen E-Mail vom 30.8.2018 beigefügt, mit der gegen die Einkommen­steuer­bescheide Einspruch eingelegt wurde. Ausweislich dieses Ausdrucks wurde die E-Mail am 30.8.2018 um 14:54 Uhr vom Account des Prozess­bevoll­mächtigten an die Poststelle des FA versandt. Daraufhin teilte das FA dem Prozess­bevoll­mächtigten des Klägers mit, dass die E-Mail beziehungs­weise der Einspruch vom 30.8.2018 nicht beim FA eingegangen sei. Ein solcher sei vielmehr erst durch die E-Mail vom 31.5.2019 und damit nach Ablauf der Einspruchs­frist eingelegt worden. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig und gewährte keine Wieder­einsetzung in den vorigen Stand.

Der hiergegen erhobenen Klage gab das FG statt (Sächsisches FG, Urteil v. 27.1.2023 - 3 K 744/22).

Die Richter der BFH wiesen die Revision des FA als unbe­gründet zurück:

  • Der Kläger hat zwar die Einspruchs­frist nicht gewahrt, diesem war aber Wieder­einsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

  • Gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch gegen einen Steuer­bescheid inner­halb eines Monats nach Bekannt­gabe des Verwaltungsakts einzu­legen.

  • Nach § 87a Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AO i.d.F. der Streit­jahre ist ein elektro­nisches Dokument zugegangen, sobald die für den Empfang bestimmte Einrich­tung es in für den Empfänger bearbeit­barer Weise aufgezeichnet hat. Der Zugang einer E-Mail setzt damit voraus, dass sie auf dem E-Mail-Server des Empfängers oder des Providers einge­gangen, das heißt abrufbar gespeichert, ist.

  • Für den fristgerechten Zugang des Einspruchs trägt der Ein­spruchs­führer die (objek­tive) Fest­stellungs­last (vgl. z.B. Senats­beschluss v. 22.6.2020 - VI B 117/19, Rz 17). Folglich hat der Versender einer E-Mail den Zugang in der für den Empfang bestimmten Einrichtung nachzu­weisen. Ein Ausdruck der E-Mail reicht hierfür nicht aus. Auch das Absenden einer E-Mail stellt keinen Nachweis für deren Zugang beim Empfänger dar. Denn die Absendung allein bietet keinerlei Gewähr dafür, dass die Nachricht den Erklärungs­empfänger beziehungs­weise dessen E-Mail-Postfach tatsäch­lich erreicht.

  • Das Absenden einer einfachen, insbe­sondere ohne Anforderung einer Empfangs- oder Lesebestätigung über­mittel­ten E-Mail begründet auch keinen Beweis des ersten Anscheins für den Zugang der E-Mail beim Empfänger (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 14.9.2017 - L 19 AS 360/17). Ein Beweis des ersten Anscheins für den Eingang beim E-Mail-Postfach des Empfängers wäre (im Streit­fall) nur dann begründet, wenn der Kläger eine Eingangs- oder Lese­bestäti­gung erhalten hätte.

  • Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist das FG zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger den Zugang der E-Mail vom 30.8.2018 und damit den recht­zeitigen Zugang des Ein­spruchs­schreibens beim FA nicht nachge­wiesen hat. Aller­dings war dem Kläger Wieder­einsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO zu gewähren.

  • "Ohne Verschulden" - im Sinne des § 110 Abs. 1 AO - verhindert eine gesetzliche Frist einzu­halten, ist jemand, wenn er die für einen gewissen­haft und sach­gemäß handelnden Ver­fahrens­beteilig­ten gebotene und ihm nach den Umständen zumut­bare Sorgfalt beachtet hat (vgl. BFH, Urteil v. 20.11.2008 - III R 66/07, BStBl II 2009).

  • Mit der Absendung der zutreffend adres­sierten E-Mail hat der Steuer­pflichtige (beziehungs­weise sein Prozess­bevoll­mächtigter) alles ihm Mögliche (und Erforder­liche) getan, damit die E-Mail seinen Verant­wortungs­bereich tatsäch­lich verlässt; auf die Dauer der "elektro­nischen" Beför­derung der E-Mail vom Absendeserver zum Server des Empfängers und die Ablage von dort in das E-Mail-Postfach des Empfängers sowie einen "Verlust" der E Mail im "Netz" hat er keinen Einfluss und muss für diese Fälle auch keine Vor­kehrungen treffen. Deshalb ist er auch nicht gehalten, sich des Zugangs der E-Mail beim Empfänger zu versichern, sondern darf auf den ordnungs­gemäßen "elektro­nischen Postgang" vertrauen (vgl. z.B. BFH, Urteil v. 27.11.2024 - IV R 25/22; s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 30.1.2025).

  • Wird ein Einspruch per E-Mail eingelegt, so ist das Unter­lassen der Anfor­derung einer Empfangs- oder Lese­bestäti­gung ohne Einfluss auf das Verschulden der Frist­versäumnis im Rahmen eines Wieder­ein­setzungs­antrags.

Quelle: BFH, Urteil v. 29.4.2025 - VI R 2/23; NWB Datenbank (lb)

 
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im VI. Senat des BFH Dr. Stephan Geserich gelangen Sie hier (Login erforder­lich).