Online-Nachricht - Donnerstag, 30.10.2025

Verfahrensrecht | Beginn der Fest­setzungs­frist für die Erb­schaft­steuer beim Auf­finden eines Testa­ments (BFH)

Maßgebender Zeit­punkt, zu dem ein testa­mentarisch einge­setzter Erbe sichere Kennt­nis im Sinne von § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO von seiner Erb­ein­setzung hat, ist der Zeit­punkt einer Ent­schei­dung des Nach­lass­gerichts über die Wirk­sam­keit des Testa­ments im Erb­schein­ver­fahren, wenn ein anderer mög­licher Erbe der Ertei­lung des Erb­scheins ent­gegen­tritt (BFH, Urteil v. 4.6.2025 - II R 28/22; veröf­fent­licht am 30.10.2025).

Hintergrund: Gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist die Änderung einer Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Fest­setzungs­frist abge­laufen ist, die für die Erb­schaft­steuer regel­mäßig vier Jahre beträgt (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Die Fest­setzungs­frist beginnt mit Ablauf des Kalender­jahres, in dem die Steuer ent­standen ist oder eine bedingt ent­standene Steuer unbe­dingt geworden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Die Steuer entsteht bei Erwerben von Todes wegen mit dem Tode des Erblas­sers (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG).

Abweichend von § 170 Abs. 1 AO beginnt gemäß § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO für die Erbschaft­steuer die Fest­setzungs­frist bei einem Erwerb von Todes wegen nicht vor Ablauf des Kalender­jahres, in dem der Erwerber Kenntnis von dem Erwerb erlangt hat.

Sachverhalt: Der Kläger ist der Neffe der im November 1988 verstorbenen Erblasserin. Diese hatte mit Testament vom 21.6.1983 den Kläger und dessen Schwester zu gleichen Teilen als Erben eingesetzt. Mit weiterem Testament vom 11.8.1988 hatte sie den Kläger zum Alleinerben bestimmt. Da die Testamente zunächst nicht bekannt waren, wies ein am 5.1.1989 erteilter Erbschein den Kläger und dessen Schwester als Erben zu je ½ aufgrund gesetz­licher Erbfolge aus.

Das seinerzeit zuständige Finanzamt setzte zuletzt mit bestands­kräftigem Bescheid vom 5.07.1994 Erbschaft­steuer fest. Dabei ging es davon aus, dass der Kläger hälftiger Erbe aufgrund gesetz­licher Erbfolge geworden ist.

Im Mai 2003 legte der Kläger dem Amtsgericht das von ihm nach der Erteilung des Erbscheins vom 5.1.1989 aufgefundene Testament der Erblasserin vom 11.8.1988 vor und beantragte einen ihn als Alleinerben aus­weisenden Erbschein. Dem trat seine Schwester entgegen und trug vor, die Erblas­serin sei bei der Errichtung des Testaments testierunfähig gewesen.

Mit Vorbescheid vom 27.9.2007 kündigte das Nachlass­gericht an, den Erbschein wie vom Kläger beantragt zu erteilen. Die hier­gegen gerichteten Beschwerden der Schwester des Klägers hatten von dem LG und dem OLG keinen Erfolg. Am 7.10.2009 wurde dem Kläger ein Erbschein erteilt, der ihn als Allein­erben der Erblas­serin ausweist.

Am 22.9.2010 erließ das FA einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und setzte gegen den Kläger, den er nunmehr als Allein­erben behandelte, Erbschaftsteuer fest. Der Kläger ist der Auffas­sung, dass die Fest­setzungs­frist abgelaufen sei. Seine Klage hatte in erster Instanz keinen Erfolg (FG Düsseldorf vom 29.6.2022 - 4 K 896/20 Erb, s. hierzu Hahn, NWB 37/2022 S. 2612).

Die Richter des BFH wiesen seine Revision zurück:

  • Für die Kenntnis von dem Erwerb im Sinne von § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO ist der rechts­gültige Erwerb maßgebend. Die Anlauf­hemmung gilt für den jewei­ligen Erwerb aufgrund eines bestimmten Rechts­grunds. Lediglich im Hinblick auf diesen Rechts­grund ist ihre Wirkung mit der einmal erlangten Kenntnis verbraucht.

  • Maßgebender Zeitpunkt, zu dem ein testamen­tarisch einge­setzter Erbe sichere Kenntnis im Sinne von § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO von seiner Erbein­setzung hat, ist der Zeitpunkt einer Ent­scheidung des Nachlass­gerichts über die Wirksamkeit des Testaments im Erb­schein­verfahren, wenn ein anderer möglicher Erbe der Erteilung des Erbscheins entgegen­tritt.

  • Ob die Gerichtsent­schei­dung mit Rechtsmitteln anfecht­bar ist oder tatsächlich angefochten wird, ist für die Kenntnis im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO unerheblich (Anschluss an BFH, Urteil v. 27.4.2022 - II R 17/20, BFH/NV 2022, 901).

  • Nach diesen Grundsätzen hat das FG die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

  • Der Änderungsbescheid vom 22.9.2010 ist innerhalb der vierjährigen Fest­setzungs­frist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO ergangen.

  • Die Festsetzungsfrist begann gemäß § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht vor Ablauf des Kalender­jahres zu laufen, in dem der Kläger aufgrund des Erlasses des Vorbe­scheids des Nachlass­gerichts am 27.9.2007 Kenntnis von dem rechts­gültigen Erwerb als Alleinerbe aufgrund des Testa­ments vom 11.8.1988 erlangt hat.

  • Entgegen der Auffassung des Klägers war die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht durch die Erteilung des Erbscheins im Januar 1989 verbraucht, da dieser auf der gesetzlichen Erbfolge beruhte und nicht - wie der Vor­bescheid vom 27.9.2007 - auf dem rechts­gültigen Erwerb aufgrund des Testa­ments der Erblas­serin vom 11.08.1988.

  • Auf die Erteilung des Erbscheins im Jahre 2009 nach rechts­kräftigem Abschluss des Erb­schein­ver­fahrens kommt es entgegen der Auffas­sung des FG nicht an. Die Fest­setzungs­frist begann somit mit Ablauf des Jahres 2007 und endete gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Ablauf des Jahres 2011.

Quelle: BFH, Urteil v. 4.6.2025 - II R 28/22; NWB Datenbank (il)

 
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