Online-Nachricht - Donnerstag, 13.11.2025
Verfahrensrecht | Entkräftung der Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bei einem strukturellen Zustellungsdefizit innerhalb der Drei-Tages-Frist (BFH)
Wird innerhalb der Drei-Tages-Frist an zwei Tagen planmäßig keine Post zugestellt und am dritten Tag lediglich die Post vom ersten zustellfreien Tag nachgeliefert, ist die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ohne Weiteres entkräftet (BFH, Urteil v. 29.7.2025 - VI R 6/23; veröffentlicht am 13.11.2025).
Hintergrund: Nach § 47 Abs. 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Klage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Entscheidung kann auch durch die Post übermittelt werden (§ 366 i. V .m. § 122 Abs. 2 AO). Der Verwaltungsakt gilt gem. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO in der für das Streitjahr geltenden Fassung bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist.
Sachverhalt: Das Finanzamt (FA) hatte einen Einspruch des Klägers gegen seinen Einkommensteuerbescheid 2020 mit Einspruchsentscheidung vom 28.1.2022 (einem Freitag) zurückgewiesen. Im Rahmen der Klageschrift, welche beim Gericht am 3.3.2022 einging, gab der Kläger an, dass die Einspruchsentscheidung am 3.2.2022 (einem Donnerstag) seinem Bevollmächtigten zugegangen sei. Der vom FA eingesetzte Postdienstleister stellt an der Kanzleianschrift des Bevollmächtigten an Samstagen keine Post zu. Er machte geltend, dass die Bekanntgabefiktion nicht greife, weil die Post weder am 29.1. noch am 30.1.2022 ausgetragen worden sei. Tatsächlich sei die Einspruchsentscheidung erst am 3.2.2022 bei seinem Steuerberater eingegangen.
Das FG Münster wies die Klage als unzulässig ab (FG Münster, Urteil v. 11.5.2023 - 8 K 520/22 E; s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 15.6.2023 sowie Hahn, NWB 31/2023 S. 2152 und Rätke, BBK 14/2023 S. 632). Das FG wandte auf die Einspruchsentscheidung vom 28.1.2022 die Drei-Tage-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO an und gelangte so zu einer Bekanntgabe am 31.1.2022, einem Montag. Die Klagefrist begann daher am 1.2.2022 und endete am 28.2.2022. Die am 3.3.2022 eingegangene Klage war somit verfristet.
Die Richter des BFH hoben das FG-Urteil auf und verwiesen die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück:
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Das FG hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz reichen allerdings nicht aus, um abschließend zu beurteilen, ob die Klage auch begründet ist.
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Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen (vgl. BFH, Urteil v. 14.6.2018 - III R 27/17, BStBl II 2019 S. 16, Rz 9; s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 24.10.2018). Hat der Steuerpflichtige seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das FG die Frage, ob "Zweifel" daran bestehen, dass ihm der Verwaltungsakt innerhalb der Dreitagesfrist zugegangen ist, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu beantworten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).
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Vorliegend ergeben sich aus den besonderen Umständen des Falles aber erhebliche Zweifel an dem typischen Geschehensablauf, dass die Einspruchsentscheidung den Empfänger, den Prozessbevollmächtigten des Klägers, innerhalb von drei Tagen nach Aufgabe zur Post erreicht hat. Denn der Kläger hat am Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO berechtigte Zweifel dargelegt. Nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) wurde im Gewerbegebiet, in dem das Büro des Prozessbevollmächtigten belegen ist, durch den Postdienstleister Post regelmäßig nur von Dienstag bis Freitag zugestellt. Allein die Post für die "Samstagszustellung" wurde ausnahmsweise standardmäßig am darauffolgenden Montag zugestellt.
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Es lässt sich im vorliegenden Fall nicht ausschließen, dass die am Freitag vom FA zur Post gegebene Einspruchsentscheidung erst an einem späteren Tag als am darauffolgenden Montag dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zuging, da Samstag und Sonntag im Gewerbegebiet zustellfreie Tage waren und es sich auch bei dem Montag dem letzten Tag der Frist (vgl. u.a. Senatsurteil v. 20.2.2025 - VI R 18/22; s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 2.5.2025 und Geserich, NWB 20/2025 S. 1378) nicht um einen regulären Zustelltag handelte. Vielmehr wurde am Montag, hier dem letzten Tag der Dreitagesfrist, lediglich die "Samstagspost" und damit die Post des ersten auf den Einlieferungstag (Freitag) folgenden Werktags nachgeliefert.
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Wird innerhalb der Drei-Tages-Frist an zwei Tagen planmäßig keine Post zugestellt und am dritten Tag lediglich die Post vom ersten zustellfreien Tag nachgeliefert, ist die Bekanntgabevermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO aufgrund eines solchen „strukturellen Zustellungsdefizits“ ohne Weiteres entkräftet.
Quelle: BFH, Urteil v. 29.7.2025 - VI R 6/23; NWB Datenbank (lb)
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