Online-Nachricht - Donnerstag, 13.11.2025

Verfahrensrecht | Formeller Buch­führungs­mangel bei fehlen­dem Aus­weis von Storno­buchun­gen (BFH)

Ein formel­ler Buch­führungs­mangel, der eine Schätzungs­befug­nis nach § 162 AO begrün­det, kann nach der höchst­richter­lichen Recht­sprechung auch dann vor­liegen, wenn ein Kassen­system Stor­nie­rungen zu­lässt und diese system­bedingt in den Tages­ab­schlüs­sen oder in den Z-Bons nicht aus­ge­wiesen werden (BFH, Urteil v. 29.7.2025 - X R 23-24/21; veröf­fent­licht am 13.11.2025).

Hintergrund: Nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AO hat die Finanz­behörde die Besteue­rungs­grund­lagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 1 AO ist insbe­sondere dann zu schätzen, wenn der Steuer­pflichtige über seine Angaben keine aus­reichen­den Aufklärungen zu geben vermag oder weitere Auskunft oder eine Versiche­rung an Eides statt verweigert oder seine Mitwir­kungs­pflicht nach § 90 Abs. 2 AO verletzt. Nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO gilt das Gleiche, wenn der Steuer­pflichtige Bücher oder Auf­zeich­nungen, die er nach den Steuer­gesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann, wenn die Buch­führung oder die Aufzeich­nungen der Besteue­rung nicht nach § 158 Abs. 2 AO zugrunde gelegt werden oder wenn tatsächliche Anhalts­punkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuer­pflichtigen gemachten Angaben zu steuer­pflichtigen Einnahmen oder Betriebs­vermögens­mehrungen bestehen und der Steuer­pflichtige die Zustim­mung nach § 93 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 AO nicht erteilt.

Sachverhalt: Die Sache befindet sich im zweiten Rechtsgang.

Die Kläger sind Eheleute und werden zur Einkommen­steuer zusammen veranlagt. Der Kläger führte neben einer ander­weitigen, gewinn­bringen­den gewerb­lichen Betätigung seit dem Jahr 2008 auch einen Gastro­nomie­betrieb. Für die Streitjahre 2011 bis 2013 erklärte der Kläger neben Umsatzerlösen auch ent­sprechende Gewinne / Verluste aus dem Gastronomiebetrieb. Nach einer für die Jahre 2011 bis 2013 durchgeführten Außen­prüfung nahm das Finanzamt (FA) bei dem Gastro­nomie­betrieb Hinzu­schätzungen zu den Erlösen und Umsätzen mit der Begründung vor, dass die Buch­führung formell nicht ordnungs­gemäß gewesen sei. Grund hierfür war die genutzte EDV-Kasse, die als "Tages­abschlüsse" bezeichnete Belege ausgab, die zwar mit einem Datum versehen waren und eine Gesamtsumme auswiesen, aber nicht fortlaufend nummeriert waren. Es wurden auch keine Storno­buchungen aufgeführt, obwohl diese möglich waren. Zudem sind keine Inventuren zur Ermitt­lung des Warenbestands durchgeführt worden. Die Hinzu­schätzungen erfolgten auf der Grundlage der vom BMF veröffentlichten Richtsatz­samm­lungen für das Kalenderjahr 2011 (BMF, Schreiben v. 21.6.2012, BStBl I 2012 S. 626), dabei wurde aber mit Blick auf die besonderen betrieblichen Gegeben­heiten ein Rohgewinnaufschlagsatz (186 %) in Ansatz gebracht und von dem auf diese Weise kalku­lierten Mehrer­gebnis zusätzlich noch ein "Sicher­heits­abschlag" von 30 % vorge­nommen.

Die hiergegen gerichtete Klage hatte im ersten Rechtsgang keinen Erfolg (FG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 23.3.2021 - 3 K 1862/19). Das FG sah die Voraus­setzungen für eine Schätzung der Besteue­rungs­grund­lagen gem. § 162 AO als erfüllt an. Allerdings verwarf das FG die Aufschlagkalkulation des FA und nahm selbst eine Schätzung vor, indem es die Umsatzerlöse des Klägers auf der Grundlage einer vom FG selbst ermittelten Größe "erzielbare Tageserlöse" durch "pauschale Sicherheitszuschläge" erhöhte. Da die eigene Schätzung des FG jedoch im Ergebnis zu höheren Hinzu­schätzungs­beträgen führte, bestätigte das FG unter Berufung auf das sogenannte Ver­böserungs­verbot die Hinzu­schätzung des FA auch der Höhe nach.

Auf die Nicht­zulas­sungs­beschwerde der Kläger hin hob der erkennende Senat das im ersten Rechts­gang ergangene Urteil mit Beschluss vom 21.8.2019 - X B 120/18 auf und verwies die Sache an das FG zurück.

Das FG bestätigte im zweiten Rechtsgang im Wesentlichen seine Entschei­dung aus dem ersten Rechts­gang und folgte in Bezug auf die Schätzungs­methode und die Höhe der Hinzuschätzung nunmehr dem FA (FG Rheinland-Pfalz, Urteil v, 23.3.2021 - 3 K 1862/19). Dieses habe bei seiner Schätzung ausdrücklich nicht den ansonsten üblichen mittleren Rohgewinn­aufschlag­satz angewendet, sondern den untersten Rohgewinnaufschlagsatz.

Die Richter des BFH hoben die FG-Urteile weitest­gehend auf und verwiesen die Sachen zur ander­weitigen Verhand­lung und Entschei­dung an das FG zurück:

  • Ein formeller Buchführungsmangel, der eine Schätzungs­befugnis nach § 162 AO begründet, kann nach der höchst­richter­lichen Recht­sprechung auch dann vorliegen, wenn ein Kassen­system Stor­nierungen zulässt und diese systembedingt in den Tagesabschlüssen oder in den Z-Bons nicht ausge­wiesen werden (vgl. u.a. BFH, Beschluss v. 14.8.2018 - XI B 2/18).

  • Das FG ist demnach zutreffend davon ausgegangen, dass die Buchführung des Klägers wegen des fehlenden Ausweises der vom Kassen­system ermög­lichten Stor­nierungen in den jeweiligen Tages­abschlüssen und der Möglichkeit, mehrere Tagesabschlüsse an einem Tag zu fertigen, unter gravierenden formellen Mängeln leidet, die ihr die Beweiskraftwirkung des § 158 AO a. F. nehmen. Dies genügt nach den vorstehenden Grundsätzen bereits, eine Schätzungsbefugnis des FA und des FG nach § 162 AO zu begründen.

  • FA und FG sind in der Wahl ihrer Schätzungs­methoden grundsätzlich frei. Jedoch ist diese Freiheit bei mehreren in Betracht kommenden Schätzungsmethoden nach den allge­meinen für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens (§ 5 AO) geltenden Grund­sätzen eingeschränkt.

  • Im Rahmen der Ermessensausübung sind tendenziell unge­nauere Schätzungs­methoden gegen­über genaueren Schätzungs­methoden nachrangig (vgl. Senatsurteil v. 25.3.2015 - X R 20/13, BStBl II 2015 S. 743; s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 22.7.2025). In der Regel ist der innere Betriebs­vergleich im Verhältnis zum äußeren Betriebs­vergleich als die zuver­lässigere Schätzungs­methode anzusehen (vgl. BFH, Urteil v. 26.4.1983 - VIII R 38/82, BStBl II 1983 S. 618).

  • FA und FG müssen das Ergebnis ihrer Schätzung nachvoll­ziehbar begründen. Eine fehlende oder nicht nachvoll­ziehbare Begründung kann zu einem sachlich-recht­lichen Mangel des Urteils führen, der auch ohne besondere Rüge vom Revisions­gericht beanstandet werden kann.

  • Dementsprechend muss, ungeachtet der Zweifel, die der Senat zuletzt an der Belastbar­keit der Richt­satz­schätzung geäußert hat (vgl. u.a. BFH, Urteil v. 18.6.2025 - X R 19/21, s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 25.9.2025 mit Anmerkung von Nöcker, sowie Nöcker, NWB 44/2025 S. 2988), auch eine griffweise Schätzung, die sich der Kennzahlen der Richtsatz­sammlung des BMF bedient, die Wahl der Kennzahl bei etwaigen Besonder­heiten nachvoll­ziehbar begründen. Eine ausreichende Begründung seitens des FG ist im zugrunde­liegenden Fall nicht erfolgt.

  • Da dem Senat keine eigene Schätzungs­befugnis zukommt, muss die Sache zur ander­weitigen Verhandlung und Ent­scheidung an das FG zurück­verwiesen werden.

Quelle: BFH, Urteil v. 29.7.2025 - X R 23-24/21; NWB Datenbank (lb)

 
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im X. Senat des BFH Prof. Dr. Gregor Nöcker gelangen Sie hier (Login erforder­lich).