Online-Nachricht - Donnerstag, 09.04.2020
Verfahrensrecht | Unzulässige Selbstentscheidung abgelehnter Richter (BFH)
Entscheidet der abgelehnte Richter unter Verstoß gegen § 45 Abs. 1 ZPO selbst anstelle seines Vertreters über einen zulässigen Ablehnungsantrag, schlägt dieser Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter auf die Endentscheidung durch, ohne dass es darauf ankommt, ob das Ablehnungsgesuch in der Sache begründet ist oder nicht (BFH, Beschluss v. 16.10.2019 - X B 99/19; veröffentlicht am 9.4.2020).
Sachverhalt: Die Klägerin hatte die in ihrem Verfahren an einem AdV-Beschluss beteiligten Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Aufgrund der langen Dauer des AdV-Verfahrens habe sie den Eindruck, dass der Senat ihr Schutzbedürfnis nicht hinreichend ernst nehme. So habe sie bereits eine Immobilie verkaufen und eine Kontenpfändung hinnehmen müssen. Teile ihres AdV-Antrags seien nicht beschieden worden. Das FG hätte zu der Frage, wann die erste Prüfungshandlung vorgenommen worden sei, entweder konkrete Erhebungen durchführen oder aber die beantragte AdV gewähren müssen.
Das FG wies die Klage unter Mitwirkung der abgelehnten Richter ab und sah den Ablehnungsantrag im Urteil als rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig an.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Klägerin hatte vor dem BFH Erfolg:
- Die von der Klägerin sinngemäß erhobene Rüge, das FG habe ihren Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt, indem die abgelehnten Richter entgegen § 45 Abs. 1 ZPO (i.V.m. § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO) selbst über den Ablehnungsantrag entschieden haben, greift durch.
- Im Streitfall verstieß zunächst die Behandlung des Ablehnungsgesuchs als solches gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
- Zwar ist es allgemein unzulässig, pauschal einen ganzen Spruchkörper abzulehnen, weil ein Ablehnungsgesuch sich grundsätzlich auf bestimmte Richter beziehen muss.
- Allerdings ist ein solches Ablehnungsgesuch - auch wenn sämtliche Mitglieder eines Spruchkörpers im Hinblick auf eine von ihnen zuvor getroffene Kollegialentscheidung abgelehnt werden - nur dann rechtsmissbräuchlich und daher unzulässig, wenn es gar nicht oder ausschließlich mit Umständen begründet wird, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen können.
- Dies ist nur dann der Fall, wenn der Ablehnungsantrag sich bereits ohne jedes Eingehen auf den Verfahrensgegenstand als unzulässig darstellt (Anschluss an BVerfG, Beschluss v. 20.7.2007 - 1 BvR 2228/06, unter II.2.a).
- Entscheidet der abgelehnte Richter unter Verstoß gegen § 45 Abs. 1 ZPO selbst anstelle seines Vertreters über einen zulässigen Ablehnungsantrag, schlägt dieser Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter auf die Endentscheidung durch, ohne dass es darauf ankommt, ob das Ablehnungsgesuch in der Sache begründet ist oder nicht (Anschluss an BVerfG, Beschluss v. 11.3.2013 - 1 BvR 2853/11; ebenso bereits BFH, Beschlüsse v. 5.4.2017 - III B 122/16 und v. 5.6.2019 - IX B 121/18, BStBl II 2019, 554; Aufgabe der bisherigen BFH-Rechtsprechung, z.B. BFH, Urteil v. 10.8.2006 - II R 59/05, BStBl II 2009, 758, unter II.1.a bb).
Quelle: BFH, Beschluss v. 16.10.2019 - X B99/19; NWB