Online-Nachricht - Donnerstag, 01.09.2022

Verfahrensrecht | Änderungsbefugnis nach § 174 Abs. 4 AO (BFH)

Für den rechtmäßigen Erlass eines Änderungs­bescheids nach § 174 Abs. 4 AO reicht es aus, wenn die Änderungs­voraus­setzungen, insbesondere die Aufhebung oder Änderung des anderen Steuer­bescheids zugunsten des Steuer­pflichtigen, bis zur Entscheidung über den Einspruch gegen den auf § 174 Abs. 4 AO gestützten Änderungs­bescheid vorliegen (Anschluss an BFH, Urteil v. 24.4.2008 - IV R 50/06) Im Anwendungs­bereich des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO ist zudem erforderlich, dass die (Fehler heilende) Einspruchs­entscheidung innerhalb der Jahresfrist erlassen wird (BFH, Urteil v. 12.5.2022 - VI R 20/19; veröffentlicht am 1.9.2022).

Sachverhalt: Die Klägerin hatte im Jahr 2007 landwirtschaftlich genutzte Grundstücke veräußert, die zuletzt verpachtet waren. Das beklagte FA unterwarf die Veräußerung im Einkommen­steuer­bescheid 2007 in vollem Umfang der sog. Boden­gewinn­besteuerung, weil die Grundstücke bis zur Veräußerung zu einem landwirt­schaftlichen Betriebs­vermögen der Klägerin gehört hätten. Nachdem das FG in einem Aussetzungs­verfahren entschieden hatte, dass der Veräußerungsgewinn je zur Hälfte im Jahr 2007 und im Jahr 2008 zu versteuern sei, änderte das FA die Einkommen­steuer 2007 mit Bescheid vom 17.9.2014 zu Gunsten und die Einkommensteuer 2008 mit Bescheid vom 15.9.2014 zu Lasten der Klägerin ab, indem es den Veräußerungs­gewinn in den beiden Veranlagungs­zeiträumen je zur Hälfte erfasste.

Die gegen die Änderungsbescheide erhobenen Einsprüche blieben ohne Erfolg.

Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage wegen Einkommensteuer 2007 war erfolglos. Die dagegen gerichtete Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision hat der Senat als unbegründet zurückgewiesen. Die Klage wegen Einkommen­steuer für das Streitjahr wies das FG ebenfalls ab (FG Baden-Württemberg, Urteil v. 9.2.2018 - 13 K 89/17). (siehe hierzu unsere Online-Nachricht v. 12.8.2019)

Der BFH hat die Revision als begründet angesehen, das FG-Urteil aufgehoben und die Sache an das FG zurück­verwiesen:

  • Ein auf § 174 Abs. 4 Satz 1 AO gestützter Steuerbescheid, der erlassen wird, bevor der den Widerstreit auslösende, fehlerhafte Steuerbescheid zugunsten des Steuer­pflichtigen geändert worden ist, ist angesichts des eindeutigen Wortlauts der Regelung ("nachträglich") rechtswidrig. Dies ist jedoch dann unbeachtlich, wenn der fehlerhafte Steuerbescheid zugunsten des Steuerpflichtigen seinerseits bis zur Entscheidung über den Einspruch gegen den auf § 174 Abs. 4 AO gestützten Änderungs­bescheid aufgehoben oder geändert wird und damit zu diesem Zeitpunkt die Voraus­setzungen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO vorliegen (u.a. BFH, Urteil v. 24.4.2008 - IV R 50/06). Denn gem. § 44 Abs. 2 FGO ist Gegenstand der Anfechtungs­klage nach einem Vorverfahren der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außer­gerichtlichen Rechtsbehelf gefunden hat.
  • Ist die Festsetzungsfrist für den Steuerbescheid, für den gem. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO nunmehr die richtigen steuerlichen Folgen zu ziehen sind, bereits abgelaufen, ist dessen Änderung nach § 174 Abs. 4 Satz 3 AO nur zulässig, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden.
  • Nach dem insoweit ebenfalls eindeutigen Wortlaut der Vorschrift sowie nach deren Sinn und Zweck, die Änderung zu Ungunsten des Steuer­pflichtigen von einer vorherigen Änderung eines fehlerhaften Steuerbescheids zu seinen Gunsten abhängig zu machen, beginnt die Jahresfrist erst mit der Bekanntgabe des Steuerbescheids, mit dem der fehlerhafte Steuerbescheid aufgehoben oder geändert wird. Ein vor diesem Zeitpunkt erlassener rechtswidriger Steuerbescheid kann daher für die Einhaltung der Jahresfrist nicht herangezogen werden.
  • Das FG ist teilweise von anderen Grundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Die Änderung des Einkommen­steuer­bescheids des Streitjahres konnte - ausgehend von der regulären vierjährigen Festsetzungsfrist - nicht auf die vorliegend allein in Betracht kommende Änderungs­vorschrift des § 174 Abs. 4 Sätze 1 und 3 AO gestützt werden. Denn die steuerlichen Folgerungen aus der vorherigen Änderung des Einkommen­steuer­bescheids 2007 sind nicht nachträglich innerhalb eines Jahres nach dessen Erlass gezogen worden.
  • Das FG hat - von seinem Standpunkt aus zu Recht - keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Festsetzungsfrist 2008 wegen einer (möglichen) leichtfertigen Steuer­verkürzung der Klägerin gem. § 169 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO fünf Jahre beträgt und der hier angefochtene Einkommen­steuer­bescheid für das Streitjahr vom 15.9.2014 daher noch innerhalb dieser verlängerten Festsetzungsfrist erlassen worden ist.

 
Quelle: BFH, Urteil v. 12.5.2022 - VI R 20/19; NWB Datenbank (RD)

 
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im VI. Senat des BFH Dr. Stephan Geserich gelangen Sie hier (Login erforderlich).

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