Online-Nachricht - Donnerstag, 01.06.2023
Einkommensteuer | Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit i.S. des § 16 Abs. 4 EStG (BFH)
Für die Feststellung der dauernden Berufsunfähigkeit i.S. des § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG gelten die allgemeinen Beweisregeln. Daher darf das Gericht im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung auch nichtamtliche Unterlagen, z.B. Gutachten und andere Äußerungen von Fachärzten und sonstigen Medizinern, heranziehen (BFH, Urteil v. 14.12.2022 - X R 10/21; veröffentlicht am 1.6.2023).
Hintergrund: Gem. § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG wird der sich bei einer (Teilbetriebs )Ver-äußerung ergebende Gewinn nur zur Einkommensteuer herangezogen, soweit er 45.000 € übersteigt. Voraussetzung ist u.a., dass der Steuerpflichtige "im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig" ist.
Sachverhalt: Die Kläger werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin erzielte aus ihrem Friseurbetrieb Einkünfte aus Gewerbebetrieb. In einem Gutachten zur sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung vom 22.10.2010 wurde festgestellt, dass die Klägerin seit Anfang 2010 bis auf Weiteres in ihrem bisherigen Beruf als Friseurmeisterin nur in einem zeitlichen Umfang von drei bis unter sechs Stunden tätig sein könne. Diese Leistungsminderung dauere voraussichtlich nicht weniger als drei Jahre an. Eine Besserung infolge einer hüftendoprothetischen Versorgung sei nicht unwahrscheinlich.
Die Deutsche Rentenversicherung Nord (DRV) lehnte die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ab. Allerdings stellte das Versorgungsamt Ende 2010 eine unbefristete Bescheinigung nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStDV aus, wonach die Klägerin "ein behinderter Mensch i.S. des § 33b EStG sei (Behinderungsgrad 30 ab dem 1.2.2009).
Zum 1.1.2023 veräußerte die Klägerin ihren Friseursalon in B und ermittelte einen Veräußerungsgewinn von 6.814 €. Die Übergabe erfolgte am 29.12.2012. Das Gewerbe meldete die Klägerin insoweit unter Hinweis auf eine Betriebsaufgabe aus gesundheitlichen Gründen ab. Die Betriebsstätte in K führte sie zunächst fort, bis sie sie im Jahr 2014 unentgeltlich auf den Kläger übertrug. Dieses Gewerbe meldete sie am 30.6.2014 ab.
In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2012 beantragte die Klägerin den Abzug des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG, den sie bislang noch nicht in Anspruch genommen hatte. Das FA setzte die Einkommensteuer ohne Berücksichtigung des Freibetrags fest, da es am Nachweis der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit i.S. des § 240 Abs. 2 SGB VI fehle. Die hiergegen gerichtete Klage hatte in erster Instanz Erfolg (FG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 29.4.2021 - 2 K 426/15 (EFG 2021, 1534)).
Die Richter des BFH hoben das Urteil auf und wiesen die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück:
- Eine dauernde Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne ist gegeben, wenn zum einen die Voraussetzungen des § 240 Abs. 2 SGB VI erfüllt sind und dieser Zustand zum anderen nicht nur in einem geringeren Ausmaß zeitlich befristet ist. Dieses bedarf einer Einzelfallprüfung.
- Der Steuerpflichtige, der die Anwendung des § 16 Abs. 4 EStG begehrt, trägt die Feststellungslast für die Erfüllung der hierfür erforderlichen Voraussetzungen einschließlich des Erfordernisses, "im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig" zu sein.
- Geeignet für den Nachweis sind neben Bescheiden der Sozialversicherungsträger u.a. auch amtsärztliche Bescheinigungen. Darüber hinaus sind jedoch weitere Nachweise, insbesondere in Form von fachärztlichen Bescheinigungen, möglich.
- Weder der Wortlaut des § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI noch der des § 16 Abs. 4 EStG verlangen einen bestimmten formalen Nachweis für das Vorliegen der Berufsunfähigkeit.
- Der Freibetrag soll den zu besteuernden Veräußerungsgewinn u.a. im Fall einer dauernden Berufsunfähigkeit mindern und dient somit der Erleichterung von Betriebsveräußerungen für diese Steuerpflichtigen. Da der Gesetzgeber den Freibetrag bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen (Vollendung des 55. Lebensjahres bzw. dauernde Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn) auf Antrag nur noch "einmal im Leben", und zwar in Bezug auf die gesamte betriebliche Sphäre des Steuerpflichtigen gewährt, werden die Gestaltungsmöglichkeiten des Steuerpflichtigen begrenzt. Hinzu kommt, dass der Freibetrag angesichts seiner maximalen Höhe von 45.000 € und der ab einem Veräußerungsgewinn von 136.000 € einsetzenden Abschmelzung im Wesentlichen bei der Veräußerung eher kleiner betrieblicher Einheiten zur Anwendung kommt.
- Im Hinblick darauf erscheint es nicht als geboten, über den Gesetzeswortlaut hinausgehende formalisierte und damit besonders strenge Nachweisanforderungen zu stellen.
- Unabhängig hiervon widerspricht ein formalisiertes Nachweisverlangen dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung i.S. des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO.
- Da das FG seine Auffassung, die Klägerin sei bereits zum Zeitpunkt der Teilbetriebsveräußerung dauerhaft berufsunfähig im sozialversicherungsrechtlichen Sinne gewesen, nicht auf ausreichende tatsächliche Feststellungen gestützt hat, ist das Urteil aufzuheben.
- Das FG hat sich bei seiner Würdigung allein auf ein Gutachten aus dem Jahr 2010 gestützt, welches jedoch noch keine abschließende Aussage zur dauernden Berufsunfähigkeit der Klägerin getroffen hat. Vielmehr hat das Gutachten ausdrücklich darauf verwiesen, dass eine hüftendoprothetische Versorgung, also eine entsprechende Operation, zur Heilung führen könne. Aufgrund der erheblichen zeitlichen Distanz des Gutachtens zum Zeitpunkt der Teilbetriebsveräußerung von über zwei Jahren hätte es allerdings weitergehender Feststellungen des FG bedurft, die diese Würdigung tragen.
Quelle: BFH, Urteil v. 14.12.2022 - X R 10/21; NWB Datenbank (il)
Zur Online-Nachricht mit Anmerkung von Richter im X. Senat des BFH Prof. Dr. Gregor Nöcker gelangen Sie hier (Login erforderlich).