Online-Nachricht - Donnerstag, 02.11.2023
Verfahrensrecht | Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags (BFH)
Für eine Klage, mit der die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags ab dem Jahr 2020 geltend gemacht wird, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Steuerfestsetzung wegen dieses Punktes vorläufig ist und beim Bundesverfassungsgericht bereits ein einschlägiges Musterverfahren (hier: 2 BvR 1505/20) anhängig ist (BFH, Urteil v. 26.9.2023 - IX R 9/22; veröffentlicht am 2.11.2023).
Sachverhalt: Streitig ist, ob die Erhebung des Solidaritätszuschlags im Jahr 2020 und ab dem Jahr 2021 gegen Verfassungsrecht verstößt. Das FG der ersten Instanz hatte die Klage, mit der sich die Kläger gegen vorläufig ergangene Vorauszahlungsbescheide zum Solidaritätszuschlag wehren, als unbegründet abgewiesen (FG Baden-Württemberg, Urteil v. 16.5.2022 - 10 K 1693/21, s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 6.7.2022).
Die Richter des BFH hoben das FG-Urteil aus verfahrensrechtlichen Gründen auf und wiesen die Klage ab:
- Das FG-Urteil verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 FGO), soweit es die Klage als unbegründet statt als unzulässig abgewiesen hat. Denn das FG ist zu Unrecht von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen.
- Für die Klage fehlt wegen des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO das Rechtsschutzbedürfnis. Die Klage war daher wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung von Beginn an unzulässig.
- Im Zeitpunkt der Klageerhebung war vor dem BVerfG hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 das Verfahren 2 BvR 1505/20 anhängig. Dieses Verfahren war unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 106, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG eingeleitet worden. Die Kläger berufen sich in ihrem Klageverfahren auf dieselben verfassungsrechtlichen Vorschriften wie in dem BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20. Auch sind dieselben Normen des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 streitig.
- Die Kläger haben im Klageverfahren keinen zusätzlichen Gesichtspunkt geltend gemacht, der im BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20 keine Rolle spielt. Ungeachtet der Frage, ob die Begründung der Kläger sich mit Blick auf die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 als erfolgversprechend darstellt, hatten sie sich in ihrer Klage auf keinen weiteren Gesichtspunkt berufen, für den das anhängige Verfahren beim BVerfG nicht vorgreiflich ist.
- Welche Erfolgsaussichten das beim BVerfG anhängige (Muster )Verfahren 2 BvR 1505/20 hat, muss der erkennende Senat nicht entscheiden.
- Das Verfahren erscheint - trotz der möglicherweise fehlenden Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos und damit als Musterverfahren im Rahmen eines Vorläufigkeitsvermerks ungeeignet (vgl. zur Aufnahme in den Vorläufigkeitskatalog BMF-Schreiben v. 15.1.2018, BStBl 2018, 2 i.V.m. BMF-Schreiben v. 4.1.2021, BStBl I 2021, 49).
- Insbesondere besitzen die in der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Gründe, warum die Verfassungsbeschwerde trotz fehlender Rechtswegerschöpfung zulässig sein soll, nicht so wenig Gewicht, dass dem Verfahren von vornherein jede Erfolgsaussicht abzusprechen wäre.
Quelle: BFH, Urteil v. 26.9.2023 - IX R 9/22; NWB Datenbank (il)
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